Gelsenkirchen. Inklusion anders leben: In der Sekundarschule Hassel in Gelsenkirchen betreiben Schüler das „Kakteen Café“ und zeigen damit, was sie draufhaben.
„Für Wraps gibt es bei uns eine Produktionsstraße“, sagt Nora Anders. Tatsächlich arbeiten die Jugendlichen wie am Fließband. Die Lehrerin macht die Teigfladen in der Mikrowelle warm, gibt sie an die erste Station weiter. Hier wird der Wrap mit einem Dip bestrichen, an der nächsten Station mit frischem Gemüse gefüllt und gerollt und am letzten Stopp verpackt. Jetzt muss alles schnell gehen. Nur zwanzig Minuten haben die Schüler Zeit, für ihre jungen Kunden alles vorzubereiten. Dann öffnet das „Kakteen Café“ in der Sekundarschule Hassel. Schon jetzt stehen hungrige Schüler vor der verschlossenen Tür, warten ungeduldig und sind mächtig laut. Ganz schön stressig für das Team. Manch einer der jungen Mitarbeiter wird etwas nervös.
Sie alle haben ihre Stärken und Schwächen. Im Team aber funktionieren sie gut. Das ist für die Gruppe eine wichtige Lektion. Denn die meisten der jungen Mitarbeiter werden hier inklusiv beschult, haben einen Unterstützungsbedarf, Probleme beim Lernen oder im seelisch-emotionalen Bereich. Als Mitglied der Café-Mannschaft beweisen sie sich als wertvoller Teil einer sozialen und ökonomischen Gemeinschaft – und fühlen sich gleichwertig.
„Wir haben uns überlegt, dass es für diese Kinder einer lebenspraktischen Förderung bedarf, nicht nur einer fachlichen“, erklärt Gabi Biergans, Lehrerin für Sonderpädagogik, die Idee des Projektes. Das beginnt vor anderthalb Jahren mit einer Projektwoche. 24 Schüler nehmen seitdem teil. „Zusammen haben wir überlegt: Was kann man Gesundes essen? Schnell war klar, es wird ein grünes Café – deswegen die Kakteen im Namen.“ Vieles wird ausprobiert. „Die Schüler haben oft gesagt: Das schmeckt uns zu gesund.“ Kompromiss: An jedem der drei geöffneten Tage pro Woche gibt’s einen Wrap, einen selbst gemachten Eistee und einen fruchtigen Smoothie.
Viel gelernt – vor allem über sich selbst
Der entsteht gerade in einem anderen Teil der Küche. Gözde schnippelt noch die letzten Bananen. Seit der ersten Stunde gehört die 15-Jährige zum Team. „Es ist ein schönes Gefühl, das Lächeln in den Gesichtern unserer Kunden zu sehen. Ich mag es auch gern, Leute zu bedienen. Es macht Spaß – mehr, als in der Pause herumzuhängen. Deswegen habe ich mich für dieses Projekt gemeldet.“
Wie die Mitschüler reagieren? „Manche haben mich gelobt, andere haben gelacht. Aber das habe ich immer ignoriert. Ich bin hier glücklich.“ Viel gelernt hat Gözde in der langen Zeit im Café. Vor allem über sich selbst. „In der Küche kann ich alles. Das Kellnern fällt mir schwer. Mit Menschen zu sprechen, ihnen in die Augen zu schauen, das ist für mich nicht einfach.“ Mit anderen unbefangen in Kontakt zu kommen, das muss und will die junge Frau noch lernen. Schließlich ist es für ihren Berufswunsch wichtig: „Ich will Friseurin werden.“
Feriha kommt an der Produktionsstraße mächtig ins Schwitzen. Ihr sitzt die Zeit im Nacken. Die 14-Jährige hat gerade noch den Dip für die Wraps zubereitet, schon muss sie die Kellnerschürze anziehen. Was sie hier gelernt hat? „Dass man Spaß haben kann am Kochen.“ Sie habe auch schon zu Hause die Eltern mit Wraps und Smoothies beglückt. „Die fanden das lecker.“ Jetzt eilt sie zum Spülbecken, wäscht sich die Hände. Immer lauter werden die warteten jungen Kunden vor der Tür. Immer nervöser wird Feriha. „Wenn hier zu viele Menschen sind, ist das stressig für mich.“
Ein Aufsteller erklärt die Café-Regeln
Die Türen öffnen sich. Bald ist jeder Sitzplatz belegt. Doch die eben noch recht laute Schülerschar sitzt auf einmal ganz gesittet am Tisch, wartet, bis die Kellnerin kommt und die Bestellung aufnimmt. Was erst einmal erstaunt, das ist erlernt, gehört hier zum Konzept: ein respektvolles Miteinander und einfache Benimmregeln. Ein kleiner Aufsteller erklärt die Café-Regeln. „Ich setzte mich an den Tisch“, steht dort zu lesen. „Ich sage freundlich, was ich haben möchte. Ich bezahle meine Bestellung. Ich bleibe sitzen und unterhalte mich leise. Ich genieße meine Bestellung.“ Das Essen bekommt hier für die Schüler eine Bedeutung über die reine Nahrungsaufnahme hinaus. Sie lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen, die Speisen und nicht zuletzt jene, die sie zubereiten, zu würdigen. Ganz nebenbei lernen sie eine gesunde Ernährung mit frischem Obst und Gemüse kennen. Das ist nicht für jeden eine Selbstverständlichkeit.
Eben hat Noel seinen Wrap bekommen und dazu einen Eistee. Der 13-Jährige gehört zu den Stammgästen des Cafés, hat sich nun sogar selbst um die Teilnahme am Projekt beworben. „Ich finde die Mitarbeit der Kinder ganz gut und dass die alle so höflich sind. Das Essen schmeckt auch.“ Zunächst, erzählt er, gehe er stets mittags in die Mensa. Danach komme er her. Eine clevere Vorgehensweise, findet er. „Das ist doch das Gute, dass ich hier hin gehe und gesund esse. Zu Hause esse ich viel Fast Food und Süßigkeiten und hier viel Obst und Gemüse.“ Kaum kann der Junge es erwarten, selbst ein Teil des Teams zu sein. Nur die Untersuchung beim Gesundheitsamt, die hier alle absolviert haben müssen, trennt ihn noch von seinem Traum. Am liebsten, erzählt er, möchte er in den Service. „Darauf freue ich mich besonders.“ Sein Berufswunsch? „Kellner! Ganz klar. Oder Erzieher.“
Aufräumen, spülen, bevor der Unterricht wieder beginnt
„Möchtest du auch etwas essen?“ Angelina geht freundlich von Tisch zu Tisch, füllt für jeden der jungen Kunden einen Bestellschein aus. Den reicht sie über die Theke hinweg zu Gözde und Irem. Sie packen das Gewünschte auf ein kleines Tablett. „Das Kellnern gefällt mir gut“, sagt Angelina. Seit rund einem Jahr ist die 14-Jährige dabei. „Weil ich das toll finde. Und es hilft ja auch für später“, verweist sie darauf, dass die Schule dieses besondere Engagement lobend im Zeugnis erwähnt und zudem gesondert bescheinigt. Auf Menschen zuzugehen, das falle ihr nicht leicht, sagt Angelina. „Ich bin ein schüchterner Mensch.“ Aber das sei schon viel besser geworden.
An den eigenen Schwächen in geschützter Atmosphäre zu arbeiten und seine Stärken bereichernd in das Projekt einzubringen, darum geht es. Angelina ist ein gutes Beispiel. Sie hat keinen Förderbedarf, ist im Lernen fit – und macht nach Ladenschluss die Abrechnung. Den größten Teil der Einnahmen frisst der Betrieb. Ein bisschen aber bleibe übrig, verrät Gabi Biergans. „Davon machen wir eine Weihnachtsfeier. Weil wir ja ein Team sind.“
Eines, von dem der größte Teil nun in Windeseile aufräumen muss. In zehn Minuten geht der Unterricht weiter. Bis dahin muss alles wieder sauber sein. Gözde und Irem spülen Gläser vor, bestücken dann die Spülmaschine – und sehen so glücklich dabei nicht aus. „Spülen, das mögen wir gar nicht.“
Preisgekröntes Projekt
Mit dem „Kakteen Café“ hat sich die Sekundarschule Hassel aus dem Gelsenkirchener Norden um den diesjährigen Innovationspreis des Verbandes Sonderpädagogik in NRW beworben.
Die Schule konnte mit diesem inklusiven Ansatz den zweiten Platz ergattern. Vor einigen Tagen fand die Preisübergabe statt, die mit einer Zahlung von 750 Euro verbunden ist.