Duisburg. Die „Schallplatte“ in Duisburg, Deutschlands ältestes Geschäft seiner Art, schließt bald – nach 65 Jahren. Ein Ortstermin zum Abschied.
Von oben blicken Gottfried und Reiner herab und lächeln milde. Von ganz oben, und von zwei gerahmten Fotografien gleich hinter der Ladentür an der Wand. Unter den Bildern steht Thomas Fenn und guckt etwas zerknirscht. Der links über ihm, Gottfried Haunzwickle, hatte 1954 die „Schallplatte“ in der Duisburger Innenstadt eröffnet. Der rechts, Reiner Seehöfer, übernahm den Laden 1974 und führte ihn fast 40 Jahre lang. Und Thomas Fenn wird ihn schließen, den ältesten Plattenladen Deutschlands.
Fenn schleicht los, nach wenigen Metern hat er Tausende Schallplatten und CDs passiert, die dicht an dicht in Regalen und Boxen lehnen. In einem Hinterzimmer stehen mehr Platten und ein Ledersessel, in den sich Fenn fallen lässt. Jazz-Raritäten um ihn herum, Japanpressungen, legendäre Veröffentlichungen des MPS-Labels, das für hervorragende Aufnahmen bekannt ist. „Bei anspruchsvollen Jazz-Leuten, bei Audiophilen war Vinyl immer angesagt, es war nie tot“, sagt Fenn. Aber von denen kann er nicht leben.
„Andere Musik reinnehmen? Es gibt Bereiche, damit kann ich nichts anfangen. Tagesaktuelle Popmusik geht mir fürchterlich gegen den Strich“, erzählt er so kopfschüttelnd, dass die langen grauen Haare wehen. „Hip-Hop kann ich gar nicht hören, ich habe davon keine Ahnung, ich kann es nicht verkaufen. So kann ich mich nicht verstellen.“ Deshalb ist Ende des Jahres Schluss. „Es ist nicht leicht. Ich hänge an dem Laden, auch wenn es nur sechs Jahre waren. Ich hänge dran.“
Als der gebürtige Österreicher Gottfried Haunzwickle – von den Duisburgern „Wiener Friedel“ genannt – am 10. September 1954 die „Schallplatte“ am Sonnenwall eröffnet, ist Fenn gerade vier Monate alt. Haunzwickle setzt auf Klassik, zieht gutbürgerliche Kunden an, die Familien König und Grillo kommen zum Einkaufen. Und 1964 auch Fußballfans, denn in der „Schallplatte“ gibt es exklusiv den „Zebra-Twist“ auf Platte, Deutschlands älteste Stadionhymne, die heute noch vor jedem Heimspiel des MSV Duisburg läuft. Deshalb ist die „Schallplatte“ sogar Anlaufstelle der Deutschen Fußballroute NRW.
Der gnadenlose „Rillen-Reiner“
Reiner Seehöfer – auch der bekam seinen Spitznamen: „Rillen-Reiner“ – beginnt 1968 im Laden als Laufjunge. Sechs Jahre später übernimmt er die „Schallplatte“. Weiterhin biegen sich die Regale unter Klassik-Veröffentlichungen, aber auch der Jazz findet sein Plätzchen. Seehöfers unglaubliches Fachwissen wird von Kunden geschätzt, manchmal auch gefürchtet.
Wer schlecht vorbereitet vor der Ladentheke steht und eine dumme Frage zu viel stellt, wackelt schon mal ohne Platte raus, erzählen frühere Kunden. „Reiner wurde ein gewisser rustikaler Charme bescheinigt, das würde ich auch so sagen“, bestätigt Thomas Fenn. „Ich kann mir vorstellen, dass er Kunden verschreckt hat. Na ja, das mache ich manchmal auch.“
Plattenkisten schleppen bis zum Ende
Kein Wunder, dass die beiden sich so gut verstanden haben. Fenn ist Hamburger und hat in Dassendorf seit knapp 30 Jahren einen Vertrieb für Tonträger. „So 10.000, 12.000 Artikel. Weltmusik, Jazz, Blues, bisschen Klassik. Reiner war mein Kunde, wollte aber keinen Außendienst, also kam er hoch und hat die Sachen direkt bei mir geholt.“
Um 2000 begannen die regelmäßigen Besuche, Seehöfer schleppte Platten und CDs kistenweise ins Ruhrgebiet, und was er nicht verkaufte, brachte er zurück. „Im November 2012 war er zum letzten Mal da.“ Ein halbes Jahr später starb Reiner Seehöfer.
„Kulturelles Notstandsgebiet in Duisburg“
„Ich stand vor der Situation, dass noch Ware von mir in Reiners Laden war. Da bin ich im Mai 2013 also zum ersten Mal nach Duisburg gefahren“, sagt Fenn. „Bis dahin bin ich an Duisburg immer vorbeigefahren, auf dem Weg nach Holland oder England.“ Er sah den Laden und was es in Duisburg an Plattenläden dieser Kategorie sonst gab: „Nichts! Kulturelles Notstandsgebiet! Es wäre zu schade gewesen, wenn dieser Laden auch noch verschwinden sollte. Der war Reiners Lebenswerk.“ Fenn sprach mit Seehöfers langjährigem Mitarbeiter Rolf Kowalski, mit Seehöfers Witwe, und dann ging es doch weiter am Sonnenwall.
Seit sechs Jahren kommt Fenn alle zwei Wochen für ein paar Tage nach Duisburg und stellt sich in die „Schallplatte“. Aber jetzt reicht’s nicht mehr. „Mein Bruder ist mein Steuerberater, der liegt mir in den Ohren, dass ich zumachen muss. Und ich hab’s ein bisschen an der Lunge mittlerweile, klappt alles nicht mehr so gut“, erzählt der 65-Jährige. „Hobbys dürfen ja gerne kostspielig sein, aber beim Schallplattensammeln habe ich den bleibenden Gegenwert. Hier nur für den Spaß... nee. Aber der Kontakt zu den Leuten, das war mir eine ganze Menge wert. Es war ein absoluter Spaß!“
>>> Es wird noch einmal laut:
Noch gibt’s in der „Schallplatte“ was zu hören. Bevor am 31. Dezember 2019 Schluss ist, organisieren Musiker, die dem Laden verbunden sind, an den Samstagen In-Store-Gigs.
Die Reihe startet am 7. Dezember mit dem Duo Fisch (Lokalmatadore) und Oldrik aus Mülheim und Roland Heinrich, einer der wenigen ernstzunehmenden Country-Sänger in Deutschland. Sie bringen eine nur an diesem Tag erhältliche Vinyl-Single mit: „Voll wie die A40“ und „400 Kilometer bis nach Essen“.
Am 14. Dezember interpretiert Banjospieler Blind Joe Black mit Sängerin Toni Maracas alte Mörderballaden aus den USA. RichLand, das englischsprachige Alter-Ego von Roland Heinrich, singt Americana.
Beim Finale am 21. Dezember: Bluesmusiker Wolfgang Bernreuther und die Saint Galls Convention Tapes mit psychedelischem Stoner Rock.
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