Das Science-Fiction-Meisterwerk „Blade Runner“ aus dem Jahr 1982 spielt in unserer Gegenwart: November 2019. Welche Visionen wurden Wirklichkeit?
Redakteur und Cineast Thomas Richter hat überprüft, welche der genreprägenden Visionen des Regisseurs Wirklichkeit geworden sind.
Die Überbevölkerung
Vision: „Blade Runner“ spielt in einem überfüllten Los Angeles, dessen Straßen vor Menschenmassen überquellen. Auffällig ist die ethnische Durchmischung. Vertreter aller Rassen (vor allem Asiaten) und Glaubensrichtungen irren durchs Dickicht der Großstadt. Diese Vermischung hat neben dem Englischen auch zur Entstehung einer zweiten Sprache geführt. Sie heißt „City-Speak“ – ist ein Mischmasch aus Ungarisch, Deutsch und Französisch. Alle leben zusammengepfercht in gigantischen Hochhäuser-Blöcken – oder auf der Straße.
Ist-Zustand: Los Angeles ist heute mit über vier Millionen Einwohnern die zweitgrößte der Stadt der USA hinter New York. Menschen aus 140 Ländern leben dort, die über 220 verschiedene Sprachen sprechen und 100 verschiedenen Glaubensrichtungen angehören. Fast die Hälfte der Einwohner stammt aus Lateinamerika. Die Weltbevölkerung ist auf 7,75 Milliarden Menschen angewachsen. Tendenz: stetig steigend. Rund 80 Millionen kommen Jahr für Jahr hinzu. Menschen zieht es unaufhörlich vom Land in die Metropolen. Weltweiter Trend: Es gibt immer mehr Mega-Städte.
Fazit: Scotts Vision hat sich bereits teilweise bewahrheitet.
Die zerstörte Umwelt
Vision: Natur und Umwelt sind in „Blade Runner“ nach einer nicht näher geschilderten Umweltkatastrophe zerstört. Es regnet im Film bis auf eine einzige Sequenz ununterbrochen aus einem selbst tagsüber diesig-düsteren Himmel. Echte Tiere sind Raritäten. Und die künstlichen Eulen, Hunde oder Schlangen können sich nur Gutbetuchte leisten. Pflanzen existieren überhaupt nicht mehr. Los Angeles ist ein verseuchter, verdreckter Moloch.
Ist-Zustand: Der massive CO2-Ausstoß und Umweltverschmutzungen durch die Industrienationen gelten als Hauptverursacher des Klimawandels. Die USA zählen neben China und Indien zu den größten „Dreckschleudern“ auf diesem Planeten. Alarmierend ist auch das Artensterben: Laut Ökologen und Umweltforschern sind von den 8,1 Millionen Tier- und Pflanzenarten, die laut Schätzungen weltweit noch existieren, rund eine Million vom Aussterben bedroht.
Fazit: Scotts Vision ist noch nicht eingetroffen, wir sind aber auf einem furchteinflößenden Weg dorthin.
Leben in fernen Welten
Vision: Ein Teil der Menschheit hat sich in „Blade Runner“ von der unwirtlichen Erde abgesetzt und verbringt ihr Leben fern der Heimat in Kolonien, die auf Planeten in anderen Sonnensystemen errichtet wurden.
Ist-Zustand: Die Nasa plant eine Rückkehr ihrer Astronauten zum Erdtrabanten. Der nächste bemannte Flug zum Mond wird aber nicht vor 2023 stattfinden. Tesla-Erfinder Elon Musk will etwa zeitgleich erste Touristen dorthin bringen. Mit der lang erträumten Reise zum Nachbarplaneten Mars dürfte es erst Ende der 2030er Jahre etwas werden, schätzen Wissenschaftler. Menschliche Kolonien gibt es heute weder da noch dort, geschweige denn außerhalb unserer Galaxie.
Fazit: Scotts Vision ist unserer Zeit noch weit voraus.
Fliegende Polizeiwagen
Vision: Zu den spektakulärsten Modellen in der futuristischen Fahrzeugflotte von „Blade Runner“ gehören die fliegenden Polizeiwagen – so genannte „Spinner“. Sie erlauben den „Blade Runnern“ und den anderen Polizisten in der Luft ein Vorankommen in diesem am Boden schier undurchdringbaren Dickicht der Großstadt.
Ist-Zustand: Zum Los Angeles Police Departement (LAPD) gehören heute etwa 12.000 Mitarbeiter und über 5000 Fahrzeuge. Da die Westküsten-Metropole gern „Hauptstadt der alternativen Antriebe“ werden möchte, ist ein Teil der Flotte bereits auf Elektroautos umgerüstet. Beliebtester Streifenwagen in den USA mit einem Marktanteil von über 50 Prozent ist aber der Ford Interceptor. Abheben kann der nicht; erste Flug-Taxis aber sollen schon bald Personen beflügeln.
Fazit: Scotts Vision ist unserer Zeit ziemlich voraus.
Dauerberieselung mit Werbung
Vision: Die Menschen in „Blade Runner“ sind fast permanent von Werbung umgeben. In den bizarren Hochhausschluchten erstrahlen unzählige Riesenwerbetafeln und Neonlichter. Sie tauchen die Megametropole permanent in ein unwirtliches, dennoch magisches Licht – genau wie die vielen offenen Feuer auf den Straßen.
Ist-Zustand: Der sich im Internet bewegende Mensch ist einer digitalen Dauerberieselung durch Werbung ausgesetzt. Diese ist sogar auf ihn zugeschnitten. Denn beim Surfen hinterlässt jeder Nutzer seine Spuren im Netz – mit jedem einzelnen Klick. Und aus diesen Spuren wird ein individuell passendes Werbepaket geschnürt. Auch leuchtende Werbetafeln gehören wie damals schon zum großstädtischen Alltag. Und wer heute über den Times Square in Manhattan flaniert oder durch die Zentren von Tokio und Hongkong bummelt, der könnte auch denken, er sei in einem „Blade Runner“-Filmset gelandet.
Fazit: Scotts Vision ist längst zu unserer Wirklichkeit geworden.
Künstliche Menschen
Vision: Tyrell Corporation heißt jener Konzern, der in „Blade Runner“ für die Produktion der künstlichen Menschen – den so genannten „Replikanten“ – verantwortlich ist. Sie sehen aus wie wir, sind aber stärker, klüger, unverletztlicher und belastbarer. Benutzt wurden sie zum Ausbau der Kolonien in fernen Welten. Es gibt aber einen Haken: Sie haben eine maximale Lebensdauer von vier Jahren. Deshalb begehren sie auf. Sie verlangen von ihrem Schöpfer das Geheimnis, wie sie ihr Leben verlängern können.
Ist-Zustand: Es gibt schon seit Jahrzehnten humanoide Roboter, deren Konstruktion der menschlichen Gestalt nachempfunden sind. Die Aufgabenpalette, die sie erfüllen konnten, war bis vor kurzem aber überschaubar. Derzeit wird an den weltweit bedeutendsten Universitäten zur Künstlichen Intelligenz (KI) geforscht, die elementarer Bestandteil eines humanoiden Roboters werden soll. Dieser soll einmal am sozialen Leben der Menschen teilnehmen und durch Beobachtung, Interaktion und Kommunikation lernen – ähnlich einer Eltern-Kind-Beziehung. Dazu bedarf es aber der nötigen Mobilität und Sensorik.
Fazit: All das ist (noch) Zukunftsmusik, es scheint bis zur Realisierung aber nur eine Frage von Jahren zu sein.
Gedruckte Zeitungen
Vision: Gleich in einer der ersten Szenen sieht der Zuschauer, wie Ford in einer gedruckten Tageszeitung blättert, die Texte, Grafiken und Bilder enthält. Dem guten alten Printprodukt wurde also noch eine Zukunft vorhergesagt.
Ist-Zustand: Die Auflagenentwicklung der Tageszeitungen in den USA ist stark rückläufig – so wie überall. Gingen im Jahr 1999 noch knapp 56 Millionen Exemplare pro Tag über die Ladentheke, waren es 2018 mit 28,5 Millionen nur noch halb so viele. Tendenz: fallend. Die Los Angeles Times hat werktags eine Auflage von über 600.000 Exemplaren und zählt damit zu den meistgelesenen US-Zeitungen. Aber dort wie auch hierzulande gilt: Wer heute in Straßen- oder U-Bahnen fährt, der sieht fast nur noch Pendler, die das Smartphone als einzige Informationsquelle nutzen. In Zeitungen blättern immer weniger Menschen – aber sie blättern noch.
Fazit: Scotts Vision ist eingetroffen, Zeitungen werden immer existieren.
Die Bildtelefonzellen
Vision: Es gibt in „Blade Runner“ öffentliche Bildtelefonzellen, mit denen sich die Gesprächspartner hören und sehen können. Die Abrechnung der Gesprächskosten erfolgt direkt vor Ort über Karte. Ford nutzt ein solches Gerät in einer Bar, als er Replikantin Rachel anruft, um sie einzuladen.
Ist-Zustand: Dass heute weltweit rund 3,3 Milliarden Smartphones in Umlauf sind, die für ihre Besitzer nicht nur Telefon, sondern vor allem Hochleistungscomputer für die Hosentasche sind, hatte Scott vor 37 Jahren nicht vorausgeahnt. Kommunikation ist dank dieser Geräte in allen erdenklichen Formen möglich, via Facetime und Skype auch als Bildschirm-Gespräche. Öffentliche Telefonzellen sind deshalb fast komplett aus dem Stadtbild verschwunden. 1994 gab es in Deutschland noch 170.000, Anfang 2019 waren es noch 17.000.
Fazit: Die Wirklichkeit hat Scotts Vision um Längen überholt.
Sprechende Ampeln
Vision: Das Chaos auf den Straßen im überfüllten Los Angeles von „Blade Runner“ regeln sprechende Ampeln.
Ist-Zustand: 2014 gab es ausgerechnet in Marl die erste sprechende Fußgängerampel. „Danke schön, gleich wird es grün“, sagt dort bis heute eine Kinderstimme auf Knopfdruck. Dieses Angebot ist zum einen Sehbehinderten eine Hilfe. Und Kinder soll es motivieren, wirklich den Knopf zu drücken und auf die Grünphase zu warten. Heute sind es laut Stadt neun sprechende Ampeln in Marl. Drei Jahre später folgten weitere Exemplare in Neu-Ulm. Andere Städte testen noch.
Fazit: Scotts Vision ist mancherorts Wirklichkeit geworden.
15 Mal Party-Wissen für Nerds
- 1. Die Romanvorlage zum Film heißt nicht „Blade Runner“, sondern „Do Androids Dream of Electric Sheep?“ (Träumen Androiden von elektrischen Schafen?).
- 2. Geschrieben wurde sie 1968 von Philip K. Dick, dem bedeutendsten Autor der US-amerikanischen Science-Fiction-Literatur des 20. Jahrhunderts. Aus seiner Feder stammten auch die Vorlagen für die Hollywood-Kassenknüller „Minority Report“ und „Total Recall – Die totale Erinnerung“.
- 3. Der Autor erlebte die Premiere der Verfilmung seines Romans im Juni 1982 in den US-Kinos nicht mehr mit. Er war tragischerweise drei Monate zuvor an den Folgen zweier Schlaganfälle gestorben.
- 4. Der Film sollte nach ersten Plänen des Regisseurs Ridley Scott, der sich zuvor auch als erfolgreicher Werbefilmer einen Namen gemacht hatte, „Dangerous Days“ heißen.
- 5. Der Roman spielt in San Francisco im Jahr 1992, der Film in Los Angeles im November 2019.
- 6. Es existieren fünf Versionen des Films: der nicht offiziell veröffentlichte „Workprint“ (1982), die Urfassung in einer US-amerikanischen Version und eine für den internationalen Markt (beide 1982), der „Director’s Cut“ (1992) sowie der „Final Cut“ (2007). Sie weisen teils deutliche Unterschiede auf – etwa ein verändertes Ende, zusätzliche Szenen oder gesprochene Texte aus dem Off von Hauptdarsteller Harrison Ford.
- 7. Für die Filmszenen im Polizeipräsidium wurde die große Halle der „Union Station“ als Drehort genutzt – einer der berühmtesten Bahnhöfe in Los Angeles.
- 8. In der Kampfszene zwischen Replikantin Pris (Daryl Hannah) und dem Blade Runner Rick Deckard (Harrison Ford) wurde die Schauspielerin von einem männlichen Kunstturner gedoubelt. Wegen der vielen Wiederholungen einer Sequenz, wo sie etliche Flick Flacks in Folge turnen musste, ging Hannah irgendwann die Kraft aus.
- 9. Das Licht ist der heimliche Hauptdarsteller des Films. Mit ihren Maßstäbe setzenden Effekten haben Ridley Scott und der 1996 verstorbene Kameramann Jordan Cronenweth bis heute unzählige Filmemacher und Videokünstler inspiriert.
- 10. Jordans Sohn Jeff Cronenweth ist auch Kameramann geworden – mit Erfolg. Er drehte die Bilder zu beliebten Filmen wie „Fight Club“ oder „The Social Network“.
- 11. Trotz ebenso betörender wie verstörender Bilder sowie herausragender Spezial-Effekte ging „Blade Runner“ bei der Oscar-Verleihung leer aus. Er gewann dafür aber immerhin drei „Baftas“ – das britische Pendant zum US-amerikanischen Oscar. Jeweils einen „Bafta“ gab es für die beste Kamera, die beste Kostümausstattung und das beste Szenenbild.
- 12. Den weltberühmten Soundtrack zu „Blade Runner“ schuf der griechische Komponist Vangelis. Die düsteren, melancholischen Synthesizerklänge sorgten für eine perfekte musikalische Untermalung für diesen Science-Fiction-Meilenstein mit „Film noir“-Elementen. Vangelis komponierte außerdem den Soundtrack zu „Chariots of Fire“ („Die Stunde des Siegers“) und „1492 – Die Eroberung des Paradieses“.
- 13. „Blade Runner“ gilt als einer der letzten großen Science-Fiction-Filme, der ohne Computereffekte auskommen musste. Alle Spezialeffekte waren quasi von Hand gemacht. Als großer „Illustrator der Zukunft“ dieser Produktion galt Syd Mead. Er erschuf die Skyline und die Ideen für das Design der futuristischen Fahrzeuge.
- 14. Für die Hauptrolle des Blade Runners Rick Deckard hatten die Macher zunächst Dustin Hoffman vorgesehen. Ihm fehlte aber die nötige Athletik. Als Alternativen wurden Al Pacino, Nick Nolte und Burt Reynolds genannt. Erst relativ spät fiel die Wahl auf Harrison Ford. Der hatte damals gerade den ersten Indiana-Jones-Teil „Jäger des verlorenen Schatzes“ abgedreht, war aber bereits durch die Auftritte in den ersten beiden „Star Wars“-Teilen als Han Solo zu Weltruhm gekommen.
- 15. Auf der Suche nach der weiblichen Hauptrolle wurden viele Probeaufnahmen mit Kandidatinnen gemacht. Weil für die ausgewählten Dialogszenen aus Gründen der Zeitersparnis auf Harrison Ford als Gegenüber verzichtet wurde, sprang Schauspieler Morgan Paull als Platzhalter für Ford ein. Das machte er so gut, dass Regisseur Scott ihm danach eine Rolle im Film anbot. Er spielt den Blade Runner Dave Holden.