Essen. . Gerade im Sommer spielt das Fahrrad seine Trümpfe zwischen Achtsamkeit, Lifestyle und Ökobewusstsein aus. Doch sind die Potenziale ausgeschöpft?
Elliott und seine Jungs treten auf Teufel komm raus in die Pedale ihrer BMX-Räder, nutzen geschickt Böschungen und Sprünge, um die Autos abzuhängen, die an ihren Gepäckträgern kleben. Auf einem der Bikes sitzt nämlich ein Alien, das nach Hause will. Als die Flucht an einer Straßensperre ausweglos erscheint, heben die Fahrräder wie von Zauberhand ab und schweben am Nachthimmel entlang. Der Mond war nie größer, die Musik schwillt an, kein Auge bleibt trocken.
Ganz so schwerelos wie das ikonische Finale des 1980er-Films „E.T.“ ist eine gewöhnliche Radfahrt zwar nicht. Dramatisch geht es manchmal aber schon zu, wenn jäh auslaufende Radwege, chaotische Kreuzungen oder rasende Autos den Puls der Radler in die Höhe treiben. In Zeiten voller Innenstädte und edler Klimaziele sind Fahrräder für immer mehr Menschen trotzdem das Fortbewegungsmittel der Stunde.
Vom ersten Fahrrad zum Massentransportmittel
Die Erfindung des Velos liegt rund 200 Jahre zurück. Im Juni 1817 rollte Karl Drais erstmals auf der von ihm entwickelten „Laufmaschine“ durch Mannheim. Die Holzkonstruktion wog nur 20 Kilogramm und hatte eine damals neuartige Lenkung, aber keine Pedale. Stattdessen nahm man durch Abstoßen an Schwung auf und rollte auf Eisenreifen seiner Wege. Weil die meisten Straßen spärlich ausgebaut waren, nutzten die ersten Radler intuitiv den Gehweg. Die nicht ganz unfallfreie Praxis wurde in Deutschland rasch verboten – ein echter Hemmschuh für die neuen Räder, die nun vor allem als Sportgerät Anklang fanden.
Bis die Innovation zum Massentransportmittel aufstieg, waren ein paar Verfeinerungen nötig. Wegmarken auf der Erfolgsroute sind die Tretkurbel, der Dynamo und der Luftreifen mit Ventil. Zwei spezielle Modelle aus den 1860ern blieben allerdings Exoten. Die berühmten Pariser Hochräder waren als Lieblingsgefährt eitler Machos verpönt, die zudem oft schlimm verunglückten. Auch die 1869 entworfene Urform heutiger E-Bikes floppte: Die mit Spiritus betriebene Dampfmaschine für den Antrieb machte den Leuten buchstäblich zu viel Feuer unter dem Hintern.
Die 1970er machten Fortbewegung ohne Motor wieder sexy
Den Durchbruch feierten Fahrräder um 1900, als sie im Zuge der industriellen Produktion allgemein erschwinglich wurden. Allerorten nutzte man Fahrräder für den individuellen Nahverkehr, zumal sie anders als Pferde keinen Unterhalt kosteten. Doch mit dem speckigen Wohlstand der 1950er wurden die Drahtesel von Mopeds und Autos abgelöst. Bald galten Leute, die zum Einkaufen ins nächste Dorf radelten, als Abgehängte. Erst das aufflammende Ökobewusstsein der 1970er machte die Fortbewegung ohne Verbrennungsmotor wieder sexy.
Ob Vintage-Design oder E-Bikes –es gibt immer mehr Nachfrage
Der gute Ruf währt bis heute und treibt aktuell neue Blüten. Überall eröffnen Manufakturen und Shops für Vintage-Räder oder E-Bikes mit elektrischer Trethilfe. City-Bikes werden per App gemietet, taugen als Lifestyle- und Designobjekte, transportieren Einkäufe, Kinder oder Diskobekanntschaften. Für viele definiert das Radfahren auch wegen der vorbildlichen Ökobilanz ein eigenes Lebensgefühl. Wer vor die Haustür tritt, erlebt den Radboom live mit.
Besonders in den Städten hinkt die Infrastruktur der Begeisterung allerdings hinterher. Zugewucherte Radwege oder strittige Manöver gehören zum Radleralltag. Ute Symanski, die Vorsitzende des Vereins RADKOMM und der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“, sieht bei der Straßenaufteilung Nachholbedarf: „Gerade im dicht besiedelten Ruhrgebiet ist der öffentliche Raum ungerecht aufgeteilt. Der weit größte Teil der Straße ist für den Autoverkehr reserviert, hinzu kommen die vielen Parkplätze.“ Laut Symanski würde ein innerstädtisches Tempolimit von 30 Stundenkilometern sofort ein höheres Sicherheitsgefühl für Radelnde erzeugen. Vielversprechende Ansätze wie der aktuell in Bruchteilstücken befahrbare Radschnellweg Ruhr von Duisburg nach Hamm werden von Entscheidungen der Kommunalpolitik ausgebremst.
Standards für Fahrradfreundlichkeitwerden woanders gesetzt
In Dänemark und den Niederlanden ist die Fahrradkultur sattelfester in den Alltag integriert. Kopenhagen gilt als fahrradfreundlichste Stadt der Welt. Das durchdachte, oft zweispurige Radwegenetz macht das Pflaster zur Blaupause für alle Fahrradstädte. Auf dem zweiten Platz folgt Utrecht, wo Radler beispielsweise von „grünen Wellen“ profitieren. Ein weiter entferntes Radfahrerparadies ist die kolumbianische Hauptstadt Bogotá, die der Bürgermeister zur „Welthauptstadt des Fahrrads“ machen will. Konzepte wie ein Sonntagsfahrverbot für Autos oder eine innerstädtische Radschnellstraße sorgen für ein schnelles Vorankommen in der von Stau und Smog geplagten Millionenstadt. Dafür werden auch vergleichsweise radikale Verordnungen erlassen: So dürfen in Spitzenverkehrszeiten nur noch Autos mit bestimmten Endziffern der Nummernschilder fahren.
Deutsche Städte sind von solchen Standards derweil weit entfernt. Selbst das oft gelobte Münster tut verhältnismäßig wenig für die vielen ansässigen Radler. Aber warum eigentlich? „Der Knackpunkt ist, dass das Fahrrad nach wie vor nicht als gleichwertiges Verkehrsmittel angesehen wird. In den Köpfen vieler Menschen ist das Rad für die Freizeit da, das Auto für den Weg zur Arbeit. Die Straße gilt als Bereich der Autos, Radfahrer fühlen sich als Verkehrsteilnehmer zweiter Klasse,“ erklärt Symanski. „Dabei lieben die Leute aus dem Ruhrgebiet ihre Fahrräder.“
Das Umdenken ist längst angerollt
Die Politik entdeckt das Rad immer mehr als Mittel, um Verkehrs- und Abgasprobleme einzudämmen. Im Prinzip ist allen klar, dass weniger Autos im Stadtverkehr sinnvoll sind. In den Großstädten wird vor allem die Rush Hour zur Geduldsprobe. Dabei hat das Statistische Bundesamt ermittelt, dass fast die Hälfte der Deutschen einen Arbeitsweg von unter zehn Kilometern hat, 27,9 Prozent wohnen weniger als fünf Kilometer vom Arbeitsplatz entfernt. Das sind durchaus realistische Fahrraddistanzen, für die Ungeübte ein E-Bike nutzen können.
In den Köpfen der Menschen ist das Umdenken jedenfalls längst angerollt. Fahrräder sind griffige Symbole moderner Mobilität und ökologischer Sensibilität. „Viele Bürger sind bei der Verkehrswende weiter als die Politiker“, findet Symanski. „Und ich bin fest davon überzeugt, dass nur das Fahrrad den Verkehr im Ruhrgebiet retten kann. Für andere Alternativen gibt es zu wenig Geld und zu wenig Fläche.“
>>>Fakten übers Radeln
In Deutschland nutzen 74,6 Prozent das Fahrrad für Alltagswege, 52,2 für
Ausflüge und Reisen und 28,8 für sportliche Aktivitäten.
Radfahrer sind an 3,8 Prozent der Verkehrsunfälle beteiligt.
2016 gab es 332.486 Fahrraddiebstähle in Deutschland. Die Aufklärungsquote liegt bei 8,8 Prozent.
Der Fahrradbestand in Deutschland beläuft sich geschätzt auf 73,5 Millionen (inklusive E-Bikes).
5,5 Millionen Deutsche absolvierten 2018 eine Radreise mit mindestens drei Übernachtungen. Quelle: ADFC