Essen. . Der Kuss kann alles sein: Rebell, Verräter, Freund und Liebender. Warum sich eine vieldeutige Zuneigungsgeste ihren Gedenktag verdient hat.
Küssen kann man nicht allein? Als Max Raabe diese Zeilen schrieb, dachte man in Taiwan vermutlich noch nicht über die Entwicklung eines Gerätes nach, das das Gegenteil beweisen sollte. Der sogenannte „Kissenger“, der sich seit 2017 in der Betaphase befindet, ist ein mit Sensoren ausgestattetes Gerät, das an ein Sparschwein mit schaumstoffartigem Mundbereich erinnert. Mithilfe dieses „Kissengers“ soll das Küssen auch über weite Entfernungen möglich sein. Dazu, nun ja, küsst man das Schwein und der exakte Kuss-Impuls kommt bei dem auserwählten Mund des zweiten „Kissenger“-Nutzers an.
Sie haben beim Küssen lieber Schmetterlinge im Bauch als ein Schwein an den Lippen? Verständlich. Andererseits: Warum nicht auch mal ein technisches Gerät küssen? Auf das kommt es dann auch nicht mehr an. Immerhin soll ein Mensch im Alter von 70 Jahren bereits 100.000 Mal in seinem Leben geküsst haben. Diese Zahl wird dem Ergebnis einer Langzeitstudie des deutschen Psychologen Arthur Szabo aus den 1960er-Jahren zugeschrieben. Und Anlässe für das Küssen, aber auch das Geküsstwerden, gibt es mehr als genug.
Die ominöse Lust am Kuss
Das fängt kurz nach der Geburt an, wenn die Eltern den Nachwuchs zum ersten Mal herzen. Das erstreckt sich über Geburtstags- und Feiertagsschmatzer von Verwandten bis hin zum ersten, unsicheren Kuss zweier Verliebter – auf den je nach Biografie noch weitere „erste“ Küsse folgen werden; vielleicht sogar unter einem Mistelzweig. Noch inszenierter ist wohl nur der Kuss des Brautpaares – wann erhält man schließlich sonst von einem Standesbeamten, Geistlichen oder vielleicht auch einem Elvis-Imitator die Aufforderung zum Speichelaustausch? Manche geben ihren Haustieren Bussis, andere verteilen Bützchen im Karneval. Wir küssen aber auch, um zu trösten oder in Momenten des Abschieds, etwa mit einem letzten Kuss am Sterbebett. Mal küssen wir also aus Trauer, mal aus Freude, mal aus Begierde, mal aus freundschaftlicher Zuneigung – und manchmal wohl aus Gewohnheit. Doch wieso drücken wir all dies mit einem Kuss aus?
Während Sigmund Freud einst das erlernte Saugen des Babys an der mütterlichen Brust für unsere Lust am Kuss verantwortlich machte, verweisen Wissenschaftler heute oft darauf, dass beim Küssen etwa Hormone wie Serotonin, Dopamin oder Oxytocin ausgeschüttet werden, die das Wohlbefinden steigern. Die Produktion von Cortisol, das bekanntermaßen Stress verursacht, wird hingegen gehemmt.
Außerdem sollen durch das Küssen bereits bestehende Partnerschaften getestet und Bindungen gefestigt werden können. Die Bremer Kulturanthropologin und Sexualwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld hat noch einen anderen Ansatz und vergleicht das menschliche Küssen hingegen mit dem Beschnüffeln, mit dem sich viele Tiere gegenseitig begrüßen.
Bussis, Bützchen und Begegnungen
Dass der Kuss früher bei Begrüßungen eine große Rolle spielte, bestätigt auch Christoph Fasbender. Er ist Professor der Germanistik an der TU Chemnitz und hat sich im Rahmen eines Projekts mit der Geschichte des Kusses auseinandergesetzt. „Die ersten dokumentierten Küsse fanden in ritualisierten Begegnungen statt, etwa bei Begrüßungen zwischen Männern“, sagt er und verweist auf das Alte und Neue Testament. So verhält es sich auch mit dem wohl berühmtesten biblischen Kuss: Judas, der den gesuchten Jesus küsst – und ihn damit an Soldaten verrät. „Dieser ,falsche Kuss’ konterkariert all das, wofür er im ersten Moment steht: Freundschaft, Liebe, Wertschätzung.“ Gerade letzteres spielte im Laufe der Jahrhunderte auch bei den Mächtigen eine große Rolle. Man denke nur an den Papst, dessen Lippen den Boden anderer Länder berühren – oder dessen Hand zugleich von Gläubigen als Zeichen der Ehrerweisung geküsst wird. „Das Küssen ist der Moment, in dem sich das gesamte Verhältnis zwischen zwei Personen darstellt“, sagt Fasbender.
Und das sorgt auch heute noch für Verwirrung. Während Küsse zur Begrüßung im romanischen Kulturkreis ganz selbstverständlich ist, tut man sich hierzulande dabei oft schwer: zwei- oder dreimal angedeutete Luftküsschen oder gar einen echten Schmatzer auf die Wange?
Für Fasbender verweisen allein derlei Begrifflichkeiten auf die Problematik, die man im Deutschen mit dem Thema Küssen zu haben scheint: „Bussis, Bützchen oder Schmatzer: Wir verniedlichen verschiedene Arten des Küssens, um sie vom intimen Küssen zu trennen.“ Klare Regeln, klare Abgrenzungen. Noch genauer nahm man es übrigens im Rom der Antike: Die Worte „Basium“, „Osculum“ und „Suavium“ unterscheiden höfliche, freundschaftliche und liebende Küsse.
Fast schon eine Wissenschaft für sich, dieses Küssen. Und tatsächlich setzen sich in der sogenannten Philematologie Forscher verschiedenster Fachbereiche, vom Psychologen bis zum Neurowissenschaftler, mit der Thematik auseinander.
Von Musenküssen und Tabubrüchen
Und dass dem Kuss außerdem etwas fast schon Magisches, Hochemotionales und gar Verbotenes anhaftet, machte ihn auch für zahlreiche Künstler nahezu unwiderstehlich. Das begann in der westlichen Kunst im 19. Jahrhundert. „Diese Zeit war geprägt von Umbrüchen, Freiheit, aber auch Themen wie Ehe und die Rolle der Frau wurden neu gedacht“, sagt Anna Grosskopf, Kuratorin der Ausstellung „Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan“ im Jahr 2017. Einer, der es damals richtig auf die Spitze trieb, war Auguste Rodin. Die berühmte Skulptur „Der Kuss“ (1880) des französischen Bildhauers zeigt ein eng verschlungenes, zum Kuss ansetzendes Paar. Und das für damalige Verhältnisse derart realitätsgetreu, dass es für Furore sorgte: „Das Werk wurde nur hinter Vorhängen ausgestellt, wo es nur erwachsene, männliche Personen sehen durften“, sagt Grosskopf.
In den nächsten Jahrzehnten stellten immer mehr Künstler den Kuss in ihren Werken dar. „Die Reformbewegung hat damals zu einer allmählichen Befreiung starrer Konventionen geführt“, sagt Grosskopf und führt auch den deutschen Maler und Illustratoren Fidus an, der den Kuss zweier Nackter und Nacktheit nicht nur in seinen Werken abbildete, sondern auch selbst Anhänger der Freikörperkultur war – und dafür tatsächlich sogar inhaftiert wurde.
Küssen für die Kunst
Generell bot der Kuss reichlich Zündstoff: Er versinnbildlichte Liebe und Erotik und damit oft auch Rebellion und Tabubruch. So sorgte auch die französische Künstlerin und Feministin Orlan auf der Pariser Kunstmesse 1977 für einen Skandal, als sie ihre eigenen Küsse für jeweils fünf Francs verkaufte. Damit ließ sie die Grenzen von Prostitution und Performance verschwimmen und nahm auf die Situation von Frauen in der Kunst Bezug.
Auch in den letzten Jahren konnten Küsse immer wieder für Aufsehen sorgen. „Es geht dann auch um eine politische Dimension, etwa wenn sich zwei Menschen des gleichen Geschlechts küssen“, so Grosskopf. Sie spricht von Erich Honecker und Leonid Breschnew, innig im traditionsreichen sozialistischen Bruderkuss anlässlich des 30-jährigen Bestehens der DDR vereint. Dieses Bild ging um die Welt, um heute auf der East Side Gallery, dem künstlerisch gestalteten Teilstück der Berliner Mauer, ins kulturelle Gedächtnis der Hauptstadt und der vereinten Republik gemalt zu sein. So wurde die einstige Momentaufnahme selbst zum beliebten Fotomotiv.
Ähnlich berühmt: der Kuss von „Enterprise“-Kapitän Kirk und Lieutenant Uhura (Staffel 3, Episode 10), der 1968 als vermutlich meist beachteter Kuss zweier Menschen unterschiedlicher Hautfarbe in die TV-Geschichte eingehen sollte. Angeblich soll jener Kuss beim Sender NBC, bei dem die Serie lief, als bedenklich gegolten haben, weil man konservativeren Zuschauern nicht „zu viel“ zumuten wollte.
Für gemischte Reaktionen sorgte später auch die Streetart-Zeichnung des Künstlers Banksy von zwei küssenden Polizisten – und natürlich der inszenierte Kuss von Madonna und Britney Spears bei den MTV Video Awards im Jahr 2003, mit dem die Künstlerinnen die vermutlich beabsichtigte maximale Aufmerksamkeitsgenerierung erreicht haben dürften. „Nach wie vor“, so Grosskopf, „ist der Kuss ein starkes Motiv.“
>>>Internationaler Tag des Kusses am 6. Juli
Dieser Gedenktag wurde 1990 in Großbritannien als „National Kissing Day“ erfunden und ist seitdem zumindest in der westlichen Welt bekannt.
Passend dazu wird in den USA am 6. April der „Erinnere-Dich-an-Deinen-ersten-Kuss-Tag“ (auf Englisch „Remember Your First Kiss Day“) zelebriert.