Essen. . Werbeplakate auf dem öffentlichen WC: Insbesondere auf Damentoiletten wird die Privatsphäre gern genutzt, um über Hilfsangebote zu informieren.
Gut 230 Tage unseres Lebens verbringen wir im Schnitt auf der Toilette. (Anderen Schätzungen nach sind es sogar mehrere Jahre.) Viele nutzen diese Zeit lesend. Das kann einem stinken, aber Firmen haben schon lange diesen „Kommunikationskanal“ für sich entdeckt. Sie werben auf öffentlichen Toiletten.
So lesen Männer auf Plakaten oberhalb des Pissoirs über Medikamente, die bei lästigem Harndrang helfen sollen, oder wann im Lokal die nächste Happy Hour ist. In modernen sanitären Einrichtungen wird die Werbung sogar auf Displays ausgespielt: auf Spiegeln oder dem Urinalbecken. Und nicht nur Firmen nutzen diese Möglichkeit in Restaurants und auf Rasthöfen, um die Nachfrage zum Beispiel nach Kachelöfen zu befeuern (Warum sind eigentlich Toilettengänger besonders attraktive Kunden für Kamine?). Auch einige Hilfsorganisationen wählen gezielt die sanitären Anlagen, um Menschen zu informieren.
„Alkohol? Kenn dein Limit“ ist eine dieser Kampagnen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung macht Jugendlichen mit humorvollen Sprüchen deutlich, dass unkontrollierter Alkoholgenuss alles andere als cool ist: „Auf einem Bein kann man nicht stehen. – Auf allen Vieren auch nicht.“ Oder: „Betrunkene sagen die Wahrheit. – Blöd, dass sie immer so nuscheln.“
Auf dem Klo gibt es kaum Ablenkung
Die Bundeszentrale liefert damit eine starke Antwort auf das sehr präsente Alkohol-Marketing. Sie legt dabei Wert auf einen Werbe-Mix: in den sozialen Medien, auf Musikfestivals und auch auf Postkarten im Vorraum von sanitären Einrichtungen oder eben auf Toiletten-Plakaten. „Für den Einsatz von Sanitärplakaten spricht die sehr hohe Aufmerksamkeitsstärke: Der Rezipient wird bei einem Toilettengang – anders als im öffentlichen Raum – in der Regel nicht durch weitere Einflüsse oder Dritte abgelenkt“, erklärt eine Sprecherin nüchtern. „Im Vergleich zu anderen Werbemitteln kann man sich der Werbung auf ,dem stillen Örtchen’ nur schwer entziehen.“
Vielleicht ist das Klo auch deshalb attraktiv für die Alkohol-Prävention, weil dort Menschen landen, wenn sie zu tief ins Glas geschaut haben...
Die Toilette wird für Frauen zum Zufluchtsort
Die meisten Plakate von Hilfsangeboten sind allerdings in den Damentoiletten zu sehen, auf Augenhöhe an den Kabinentüren. Und das hat bei aller Schmunzelei, die Toiletten-Werbung auch mit sich bringt, einen sehr ernsten Hintergrund: Für Frauen, die Opfer von Gewalt sind, wird die Toilette zum Zufluchtsort.
Es kommt oft vor, dass ein Mann, der seine Frau schlägt oder würgt, sie auch ständig beobachtet und kontrolliert. Sie hat kaum Gelegenheit, sich unbemerkt Hilfe zu suchen, so eine Sprecherin des „Hilfetelefons – Gewalt gegen Frauen“, ein Angebot des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. „Zu der Angst kommt auch die Scham, andere könnten von der eigenen Betroffenheit erfahren. Daher eignen sich geschützte Räume nach unserer Erfahrung am besten. Das gilt auch für die Toilettenräume in Gynäkologiepraxen, die bestens geeignet sind, um Frauen mit Infomaterial zu versorgen. Denn dorthin darf sie in der Regel nicht einmal der eigene Ehemann begleiten.“
Die Telefonnummer des Hilfetelefons
„Er wird uns überall finden, hat er gesagt. Aber jetzt rede ich“, ist auf einem dieser eindringlichen Plakate zu lesen, auf dem eine Mutter mit Baby auf dem Arm und mit Wut im Blick die Betrachterin anschaut. Darunter steht die Nummer des Hilfetelefons: 08000 / 116 016.
Ein Plakat muss in der Regel in drei Sekunden verstanden sein. Da die Verweildauer in einer Toilette jedoch länger ist, darf auch das Plakat mehr Informationen enthalten, für die man im Schnitt 48 Sekunden braucht, erklärt die Sprecherin des Hilfetelefons einen weiteren Vorzug für die Klo-Kommunikation.
Bevor Frauen Opfer von Gewalt oder Stalking werden, warnt vielleicht das Bauchgefühl in einem Club: „Wie sehr sich der Kerl an mich ranschmeißt, geht zu weit!“ Nicht nur an Karneval wird das Klo in der Kneipe zum Schlupfwinkel. Dort liest die Frau vielleicht ein Plakat mit der Aufschrift: „Luisa ist hier“.
In teilnehmenden Lokalen können Frauen, die sich bedroht fühlen, das Personal fragen: „Ist Luisa hier?“ Luisa ist das Codewort, das die Kellnerin oder der Türsteher als Hilferuf versteht. Die Frauen entscheiden, welche Hilfe sie brauchen: zum Beispiel den Ruf eines Taxis, das sie sicher nach Hause bringt.
Luisa ist hier - Luisa wird zum Codewort für Frauen in Not
Die Idee für Luisa hatte der Frauen-Notruf in Münster. 2016 hatte die Beratungsstelle 400 Frauen in der Stadt befragt. „75 Prozent von ihnen haben schon einmal sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum erfahren“, so Lea Goetz (24) vom Frauen-Notruf. Die Sozialpädagogin und ihre Kolleginnen hörten schließlich von einem Projekt in Großbritannien: „Hi I’m Angela“. Der Name ließ sich wegen der Kanzlerin nicht übernehmen, aber das Konzept. Und so bekommen viele Gastronomen heute einen Handlungsleitfaden und Beratung, wie sie helfen können. Wobei sie nicht die Situation bewerten – „Ach, das kommt schon mal im Club vor“ –, sondern den Frauen helfen sollen, diskret aus der Situation herauszukommen.
Aber warum sagen die Frauen nicht direkt, was das Problem ist? „Mit der Frage nach Luisa zieht man deutlich weniger Aufmerksamkeit auf sich“, sagt Lea Goetz. „Das ist etwas anderes, als im Pulk von fremden Menschen, um Hilfe zu rufen“, bestätigt auch Florian Wels, Leiter Kommunikation und Marketing der Arena Oberhausen. Mittlerweile gibt es die Luisa-Plakate und -Aufkleber in rund 50 Städten in Deutschland, wie Düsseldorf, Gelsenkirchen, Bochum, Hagen oder Olpe.
Jugendliche mit Selbstmordgedanken nicht allein lassen
Seit kurzem spricht auch das Grillo-Theater in Essen das Publikum auf der Toilette an: „Wenn Sie selbst mit großer Traurigkeit und Depressionen zu tun haben oder sich in anderer Weise betroffen fühlen, erhalten Sie Hilfe unter den Telefonnummern 0800 / 111 0 111 sowie 0800 / 111 0 222 oder via der Homepage www.telefonseelsorge.de.“ Die Dramaturgin Judith Heese hatte die Idee für die Zettel in den Kabinen des Jugendtheaters Casa, als das Schauspiel erstmals das Stück „Auerhaus“ zeigte. Es handelt von Frieder, der Selbstmordgedanken hat.
Die Hilfsangebote im Überblick
Das kostenfreie „Hilfetelefon – Gewalt gegen Frauen“ ist rund um die Uhr zu erreichen: 08000/ 116 016. Die Beraterinnen helfen anonym und in mehreren Sprachen, auch per E-Mail sowie im Sofort- oder Termin-Chat auf www.hilfetelefon.de. Dort können Gastronomen oder Arztpraxen kostenfrei Infomaterial bestellen.
„Luisa ist hier“ – auch in unserer Region machen viele Lokale mit. Frauen, die sich zum Beispiel bedrängt fühlen, können mit dem Code-Wort „Luisa“ Hilfe beim Personal bekommen. Im Internet sind Städte und Kneipen aufgezählt, die mitmachen: luisa-ist-hier.de
Die kostenfreie und anonyme Telefonseelsorge ist für alle Menschen – auch ohne Kirchenzugehörigkeit – 24 Stunden am Tag da unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222. Es gibt auch Chat-, Mail- und Vor-Ort-Beratung (telefonseelsorge.de).
Was ist, wenn unter den Zuschauern einer sitzt, der ähnlich fühlt? Diesen Menschen wollte das Theater nicht mit seinen Sorgen allein lassen. Aber Schüler kaufen keine Programmhefte, so die 34-Jährige. Sie hätte Flyer auslegen, im Anschluss des Stücks ein Gespräch führen können. Aber welcher Jugendliche traut sich, offen zu bekennen, dass er Depressionen hat? Es sollte daher ein Aushang an einem Ort sein, an dem man sich die Telefonnummer unbeobachtet abschreiben kann, also das stille Örtchen. „Selbst wenn es nur eine Person auf dem Klo erreicht, ist es das Drucken und Kleben wert gewesen.“
Wie gut der „Kommunikationskanal Klo“ funktioniert, weiß man mittlerweile auch an der Uni. Jill Timmreck betreut in Dortmund das Projekt MinTU, mit dem bei Mädchen das Interesse für mathematische und naturwissenschaftliche Fächer geweckt werden soll. Dafür suchte sie Mentorinnen, die die Schülerinnen begleiten. Sie informierte nicht nur übers Schwarze Brett oder das Internet, sie hing die Stellenausschreibung ebenfalls auf den Damen-Toiletten aus. „Da bekomme ich die richtige Zielgruppe“, so die 32-Jährige. Mit Erfolg. Denn wenn sie bei den Bewerbungsgesprächen fragte, wie die Studentinnen auf das Projekt aufmerksam geworden sind, hörte sie auch immer wieder die Antwort: „Ich habe es auf der Toilette gelesen.“