Dortmund. . Viele Frauen fühlen sich unzulänglich, wenn sie ihr Kind nicht stillen können. Das Umfeld tut sein Übriges. Das erhöht den Druck auf die Mütter.
Langsam und gleichmäßig fließt die Muttermilch durch den Schlauch, über den ein kleines Mädchen ernährt wird. Gerade mal 1600 Gramm wiegt das drei Monate alte Baby, das auf der Frühgeborenen-Station im Klinikum Dortmund liegt. Viel zu früh kam es zur Welt. Umso wichtiger ist seine optimale Ernährung. Da seine Mutter wegen der Frühgeburt keine Milch bilden konnte, bekommt es über die krankenhauseigene und NRW-weit einzige Muttermilchbank die Milch einer anderen Frau. Beim Verlassen des Krankenhauses hatte sie ihre abgepumpte Milch, die übrig war, gespendet.
Seit die Muttermilchbank im Jahr 2015 eröffnete, werden pro Jahr etwa 200 Extrem-Frühchen, also solche, die bei der Geburt weniger als 1100 Gramm wiegen, mit circa 100 Litern Muttermilch von 12 Spenderinnen ernährt. Die Mütter, deren Babys in diesen Genuss kommen, sind sehr dankbar für diese Möglichkeit, denn: Muttermilch weist einen hohen Eiweißgehalt auf und enthält viele Abwehrstoffe, die das Risiko für spezielle Frühgeborenen-Erkrankungen senkt.
Muttermilch stärkt das Immunsystem
Wie gut Muttermilch auch für alle anderen Babys ist, wurde wieder in der jüngsten Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS) formuliert: „Muttermilch ist im ersten halben Lebensjahr die ideale Ernährung für Säuglinge.“ Zu den positiven Effekten gehören die Förderung der Immunabwehr, der Mundmuskulatur, der Intelligenz und die Prävention von Übergewicht beim Kind, die Reduzierung des Diabetesrisikos, von Multipler Sklerose und Herzerkrankungen bei der Mutter.
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Abgesehen vom Kostenfaktor der künstlichen Säuglingsnahrung, der natürlichen Keimfreiheit der Muttermilch und diese immer dabei zu haben. Die Vorteile des Stillens sind vielseitig und spätestens, seit die Nationale Stillkommission 1994 begann, „die Entwicklung einer neuen Stillkultur“ in Deutschland zu unterstützen und dazu beizutragen, „dass Stillen zur normalen Ernährung für Säuglinge“ wird, oberstes Ziel für junge Mütter.
Selbst Fremde fragen: „Stillen Sie Ihr Kind?“
Doch gibt es außer Frühchen-Müttern noch andere, die das nicht können. 12,7 Prozent können nach besagter KIGGS-Studie gar nicht stillen. Nach einem halben Jahr stillen nur noch 56 Prozent der Mütter, wegen unzureichender Milchmenge, gesundheitlicher Probleme oder Brustentzündungen.
Beinahe ebenso schmerzhaft ist, dass selbst wildfremde Menschen – also nicht nur die eigene Mutter, die Schwiegermutter und die Bridgefreundin der Großmutter – sogar an Supermarktkassen ungeniert nach dem Allerprivatesten fragen: Und, klappt’s denn auch mit dem Stillen? „Ich werde oft schief angeschaut, wenn ich sage, ich stille nicht“, erzählt eine Mutter, während sie ihren drei Monate alten Leander auf dem Schoß hält und ihm ein Fläschchen gibt. Zwillings-Bruder Benito strampelt zufrieden unterm Spielbogen.
Manchmal will es einfach nicht klappen
Die 26-jährige Dortmunderin wollte ihre Kinder unbedingt in den Genuss ihrer Muttermilch kommen lassen. Und konnte nicht. Wahrscheinlich ist eine Brust-Operation, die vor knapp zehn Jahren durchgeführt werden musste, dafür verantwortlich. Damals war das Milchdrüsengewebe vermutlich nicht mehr richtig zusammengewachsen. Obwohl sich vor der Geburt etwas Milch gebildet hatte, war es nicht genug, um auch nur einen ihrer beiden Jungs satt zu bekommen. „Ich habe es einen Monat lang immer wieder versucht, den einen der beiden anzulegen. Ich habe abgepumpt, um die Milchbildung zu fördern und es mit Stillhütchen versucht, aber da war nicht mehr wirklich was“, sagt sie traurig.
Auch die Mutter der kleinen Thea hatte wochenlang alles versucht, ihrem Kind die Brust zu geben. „Jedes Mal, wenn ich sie angelegt hatte, hat sie sich regelrecht in Rage geschrien“, erzählt die gelernte Biologin. Drei Wochen vor dem errechneten Termin zur Welt gekommen, saugte Thea nur schwach. Milchbildende Kräutertees, Wärmekissen, Brustmassagen, Abpumpen, die 34-Jährige Mutter versuchte alles. Ihre Hebamme riet ihr, sich mit dem Baby ins Schlafzimmer zurückzuziehen. Vier Stunden brüllte es ununterbrochen. „Der Stress war sehr groß“, berichtet die Wetteranerin, „wenn wir zu einem Ausflug aufbrachen, hatte ich Angst, dass es wieder nicht klappt.“ Nach zwei Monaten kam nichts mehr.
„Viele Mütter setzen sich sehr unter Druck“
Die Gründe, warum Frauen nicht stillen können, seien vielseitig und individuell, sagt Frauke Mahame, Hebamme und seit acht Jahren in der Geburtsnachsorge tätig. Sie besucht Dortmunder Familien zu Hause und unterstützt beim Stillen. „Viele haben wenig Vertrauen in sich selbst und ihren Körper, vor allem, wenn sie negative Geburtserfahrungen machen mussten. Sie setzen sich sehr unter Druck“, sagt die 39-Jährige. „Alles was mit Schwangerschaft und Geburt zu tun hat, ist heute angstbesetzt.“ Außerdem hätten Frauen oft wenig Kontakt zu anderen, die Stillberatung in den Krankenhäusern sei meist wenig ausgeprägt. Auch gebe es kaum noch die Kultur des Wochenbetts, wo die Frauen in Ruhe eine Bindung zum Baby aufbauen.
So individuell die Gründe, so ähnlich die Gefühle, die das Nicht-Stillen-Können auslöst. „Die Vorstellung, ich kann mein Kind nicht ernähren, ist das Schlimmste für die Mutter“, weiß Mahame. Fremdstillen über Ammen kam wegen künstlicher Babynahrung aus der Mode.
Schwerer Schritt zu künstlicher Milch
Anders als bei den Frühgeborenen im Klinikum Dortmund oder deutschlandweit zwei Dutzend weiteren Muttermilchbörsen, die in Kliniken integriert sind, haben Frauen mit plangemäß geborenen, gesunden Kindern und Still-Problemen keine andere Möglichkeit, als zu künstlicher Babynahrung zu greifen. Dieser Schritt fällt oft schwer.
„Als sich anderthalb Monate vor der Geburt Milch bei mir gebildet hat, habe ich geweint vor Freude“, so die Zwillings-Mutter. „Als es doch nicht geklappt hat, habe ich mich nicht vollwertig gefühlt, nicht als Frau.“ Theas Mutter meint: „Bei mir war das Gefühl, mein Kind an der offenen Brust verhungern zu lassen. Ich habe gedacht: Das kann doch jede, warum ich nicht.“ Die Angst, dadurch keine Bindung zum Kind aufbauen zu können, war unbegründet. Heute kuscheln beide innig, die Kleine strahlt. „Thea ist ein glückliches Flaschenbaby, wir sind entspannt.“
>>>> „Früher galt Stillen als unschicklich“
Drei Fragen an: Aleyd von Gartzen vom Deutschen Hebammenverband für Stillen und Ernährung
1. Was raten Sie Müttern, bei denen das Stillen nicht klappt?
Mir fallen nicht so viele Gründe ein, warum eine Frau nicht stillen kann. Meistens liegt das „nicht Stillen können“ eher an fehlenden hilfreichen Informationen und an nicht ausreichender Unterstützung aus dem Umfeld. Mütter können zudem heute häufig nicht mehr auf positive Erfahrungen aus dem Familien- oder Bekanntenkreis zurückgreifen. Deshalb ist die Betreuung durch eine Hebamme sehr zu empfehlen, damit es mit dem Stillen klappt.
2. Was hat sich verändert?
Um 1900 galt Stillen in manchen Gegenden von Deutschland noch als unschicklich. Schicker war es lange Zeit, Ammen zu beschäftigen. Viele Kinder wurden jedoch überhaupt nicht mit Muttermilch ernährt, was zu einer hohen Säuglingssterblichkeit führte. 1867 hatte Heinrich Nestlé die erste Pulvermilch auf den Markt gebracht, doch auch mit ihr gediehen die Kinder aufgrund unausgereifter Inhaltsstoffe nicht so gut. Deshalb bekamen die Kinder immer früher Beikost und wurden früh abgestillt. Ab den 50er-/60er-Jahren galt es als modern, die Flasche zu geben; bis in die 80er hatten wir sehr geringe Stillraten. Man wusste zwar damals schon, dass Muttermilch gesund ist, aber wie gesund sie ist, weiß man erst, seitdem sich die Wissenschaft intensiv mit dem Thema beschäftigt. Mittlerweile gilt das Stillen als die beste Gesundheitsprävention für das Kind, aber auch für die Mutter.
3. Was können Mütter tun, die nicht stillen können?
Ich glaube, es ist illusorisch, sich die Milch irgendwo her besorgen zu wollen. Eine direkte Spende von einer stillenden Freundin, wäre eventuell eine Möglichkeit. Milch jedoch von einer unbekannten Frau etwa über eine Muttermilchbörse zu kaufen, halte ich nicht für gut. Die Milch könnte hygienisch oder bakteriologisch nicht einwandfrei sein. Dann gibt es noch Muttermilchbanken, die sind aber an Krankenhäuser angegliedert. Die dort gespendete Milch ist nur für kranke oder frühgeborene Kinder gedacht.