Mülheim. . Das Evangelische Krankenhaus Mülheim ist als „Singendes Krankenhaus“ anerkannt. Hier singen Ärzte, Pfleger und Patienten zusammen.
Schwester Ella von Station C macht heute Mittag am Klavier statt in der Kantine. Und Uroma Tiefenbach, die kann nun wirklich nicht zum Blutabnehmen, sie singt gerade so schön. „Leise rieselt der Schnee“, aber die Nadel tut weh. Mülheims Evangelisches Krankenhaus (EKM) ist ein klingendes und singendes, ganz offiziell: weil es erkannt hat, dass Musik nicht nur gesund ist, sondern gesund macht.
Natürlich hat Herr Nowack wieder protestiert, das macht er jede Woche. „Singen kann ich nicht“, sagt der 77-Jährige, „musikalisch bin ich eine Niete.“ Aber dann klingt plötzlich diese Männerstimme aus dem rieselnden Schnee, Herr Nowack hält sich das Rassel-Ei nah an das schwerhörige Ohr, und Frau Haberle beschließt das Lied mit einem Seufzer: „Anstrengend, aber schön!“ So ist das jeden Donnerstag in der Geriatrischen Tagesklinik: Da sitzen alte Menschen um den Tisch, vor sich ihre Tabletten, die Rollatoren am Klavier geparkt. Und Petra Stahringer stimmt an.
Singen für Körper und Seele
„Die hohen Töne“, sagt die Kantorin und Leiterin der Musischen Werkstätten des EKM, „regen an wie Kaffee“ und überhaupt bringen sie die müden Glieder in Schwingung. Deshalb heißt das ja so: Klang-Körper.
Vergangene Woche hat Petra Stahringer zum ersten Mal die Weihnachtslieder mitgebracht, „Das große Buch“ liegt auf dem Piano, das sie spielt ohne hinzusehen. „Alle Jahre wieder“, „Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen“, die alten Leute kennen die Strophen von früher, sie singen leise, mit brüchigen Stimmen, aber sie singen. Auf dem Flur bleiben die Therapeuten stehen. Der Pflegerische Leiter Christian Wintgen ist heute heiser, aber er hat sich dazugesetzt, schon wegen der Gruppendynamik. „Singen“, sagt er, „bringt Körper und Geist zur Ruhe, die Patienten sind danach entspannter.“
Musik ist ein Teil der Therapie
Frau Tiefenbach mit der wippenden Hochsteckfrisur findet, „man wird ganz locker dabei“, Frau Fischer zuckt mit den Schultern im Takt, Frau Haberle hört gar nicht mehr auf, in einer hölzernen Klangschale zu rühren. Allerdings wartet schon wieder die Ergo-Therapeutin. „Lassen Sie mich doch noch ein bisschen hören!“ Gehört Musik nicht auch zur Therapie?
Das tut sie an diesem Krankenhaus. Mehr als 20 Jahre schon, aber es ist „immer noch Pionierarbeit“, sagt Petra Stahringer, 55. Jüngst nun wurde es anerkannt, der Verein „Singende Krankenhäuser“ hat die Mülheimer zertifiziert. Es gibt hier einen Chor, es gibt ein Quintett singender Chefärzte („Chefsache Singen“), es gibt „Heilsames Singen“ in der Kapelle. Die allerdings hat keine gute Akustik, weshalb sich Petra Stahringer gern ein schönes Treppenhaus sucht für die Musik oder das Foyer der Augenklinik, „das klingt gut“. Manchmal geht sie aber auch ganz leise mit einem Lied oder einer Klangschale an ein Krankenbett. „Wer singt, kann nicht weinen und fürchtet sich nicht.”
Aktivierung der Selbstheilungskräfte
Es ist ja erwiesen, dass Singen wie Sauna für die Seele ist und auch körperlich wirkt. Dass es die Selbstheilungskräfte aktiviert, Glückshormone weckt, Stresshormone eindämmt, die Herzfrequenz beruhigt, dass es sogar Schmerzen lindern kann, weil Kopf und Körper mit der Musik beschäftigt sind. Wer seine Stimme stärkt, kräftigt sich selbst, hält sich gerader, atmet tiefer. Man mag das esoterisch finden, aber „vieles ist auch reine Physik“, sagt Petra Stahringer und zudem wissenschaftlich belegt. Singen helfe, den Biorhythmus zu ordnen, sagt die Psychiaterin und Neurologin Prof. Gertraud Berka-Schmid, auch der Gehirnforscher Prof. Gerald Hüther ist ein Verfechter des Singenden Krankenhauses: „So werden sie singende Gesundwerdhäuser!“
Swingende Krankenschwestern
Dafür muss man nicht einmal erst krank sein: Kürzlich hat Petra Stahringer die „Musikalische Mittagspause“ erfunden. Schwester Ella hat sich ein bisschen gefürchtet, Pfleger Martin vom Wundmanagement hat sich bloß gewundert, und jetzt laufen sie im Kittel im Kreis. Es gibt Tee und Töne vom Monochord, Krankenpfleger, Krankenschwestern und Pflege-Schülerinnen singen „Uuuh“, der alte Parkettboden unter ihren Füßen knarzt. Erst entspannen die Stimmbänder, dann entspannt der Mensch. „Wenn’s heute Nachmittag wieder stressig wird auf Station“, sagt Petra Stahringer, „denken Sie einfach daran.“
Es sind keine zehn Minuten um, da lässt sie die Belegschaft rocken, Pfleger Martin schnippt, Schwester Ella dreht auf, ein bisschen Swing und etwas Latin, nach einer halben Stunde singen elf Menschen, die sich bis eben nicht kannten, dreistimmig Kanon. „Ich bin erfrischt im Kopf“, sagt Martin Motzkus, 43, Schwester Ella, 51, staunt: „Ich bin aufgebaut, fühle mich leicht.“
Gute Laune auf den Fluren
Heike Janz, Stationsleiterin der C, hat es geahnt. Sie kannte „das gute Gefühl“ schon vom Singen mit an Brustkrebs erkrankten Frauen, „es hat positive Auswirkungen auf die Laune“. Petra Stahringer, die gelernte Kirchenmusikerin, staunt selbst noch nach all den Jahren: „Dieser Glücks-Cocktail, den das Singen auslöst, das ist alles in uns drin!“
Auch die Sänger des „Backstein-Chors“ am EKM haben längst gelernt, was das Singen mit ihnen macht: „Man schwebt und bleibt jung“, sagt Perdita Spira, 71, Ehefrau des früheren Stiftungschefs des Krankenhauses und Mutter eines Oberarztes. Jürgen Wegmann aus dem Bass, ebenfalls 71, hat schon so oft in der Klinik gesungen, ziemlich überall zwischen Spülküche und Hospiz, dass er weiß, dass Musik „aufbaut im Genesungsprozess“, dass man aber auch genau hinsehen muss: „Gerade auf der Intensivstation, wie belastbar sind die Menschen da mit Klang?“ Er hat erlebt, „manche weinen, manche halten es auch nicht aus. Singen ohne emotionale Beteiligung geht nicht.“
In der Tagesklinik sind sie deshalb heute glücklich, die Schwestern von Station C sind fröhlich, und singend tragen sie das über alle Flure: „Es wäre schade“, sagt Petra Stahringer, „wenn es jemand nicht mitbekommt, der es braucht.”
>> Klangbad und Heilsames Musizieren für Patienten
Den Advent hat der „Backstein-Chor“ am EKM mit einem Weihnachtslieder-Flashmob in der Cafeteria eingeläutet. Am Samstag, 22. Dezember, um 18.45 Uhr gestaltet der Chor einen Gottesdienst in der Kapelle mit.
Am Dienstag, 11. Dezember, um 19 Uhr gibt es ein „Klangbad“ zum Entspannen (Kettwiger Str. 66). Am Freitag, 14., um 19 Uhr sind nicht nur Patienten zum „Heilsamen Singen“ in die Krankenhaus-Kapelle geladen.