Essen.. Die Geburt eines Kindes gilt als eines der schönsten Erlebnisse. Doch es gibt Frauen, die mit Schrecken daran zurückdenken. Dabei geht es anders.


Ein neues Leben entsteht – wie ein Wunder. Dass die Geburt jedoch nicht nur mit Glücksgefühlen verbunden sein kann, sondern auch mit Schmerzen und Ängsten, ahnen viele werdende Mütter. Dass sie während der Entbindung aber seelisch und körperlich verletzt werden können, ist heute immer noch ein Tabu.

Ihr Schmerz wird kleingeredet: „Stell dich nicht so an“, „Frauen bekommen schon seit Jahrtausenden Kinder“, „Ja, ja, das ist der Baby-Blues“ oder: „Das vergisst man auch wieder.“ Wir haben Mütter getroffen, die auch Jahre nach der Geburt nicht vergessen, sondern mit Schrecken zurückdenken: daran, was einem vorher keiner sagt. Sie möchten ihr Schweigen brechen. Am 25. November, am internationalen Aktionstag „Roses Revolution“, legen sie Blumen und Briefe vor Kreißsälen nieder, in denen sie Leid erfahren haben. Ihre Hoffnung: dass sich Geburtshilfe ändert.

Hannahs Kreislauf bricht zusammen

Hannah Vorholt hat beides erlebt: eine traumatische und eine schöne Geburt. Obwohl sie keine Schuld hat, fühlt sie sich schuldig, dass sie ihrem ersten Sohn diese Geburt zugemutet hat. Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services
Hannah Vorholt hat beides erlebt: eine traumatische und eine schöne Geburt. Obwohl sie keine Schuld hat, fühlt sie sich schuldig, dass sie ihrem ersten Sohn diese Geburt zugemutet hat. Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services © Unbekannt | André Hirtz / Funke Foto Services







Sie soll auf keinen Fall „in den Kopf pressen“, warnt der Arzt die Brillenträgerin Hannah Vorholt vor gut drei Jahren. Ihr Augeninnendruck könnte sonst zu hoch werden. Die Hebamme in Essen versteht: Hannah soll gar nicht pressen. „Willst du eine PDA?“, fragt sie die Gebärende. Wenn ja, dann jetzt. Denn zwanzig Minuten später sei Schichtwechsel. Und ob die neue Anästhesistin die Schmerzspritze so gut setzen kann? Wenig später macht die Hebamme den unter Experten umstrittenen Kristeller-Handgriff und drückt auf den Bauch der Schwangeren: „Erst noch recht sanft“, erinnert sich die 37-Jährige. „Und dann eine andere Hebamme mit vollem Körpereinsatz und Ellenbogen, während der Arzt mit voller Macht an der Saugglocke zieht.“ Kaum ist der Junge auf der Welt, rennt der Arzt mit ihm aus dem Kreißsaal. Hannahs Kreislauf bricht zusammen.

 Annika Schüll bezeichnet die Geburt ihres Sohnes als schlimmsten Tag ihres Lebens. Sie kämpft dafür, dass Frauen in ähnlicher Situation künftig mehr Respekt erfahren. Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services
Annika Schüll bezeichnet die Geburt ihres Sohnes als schlimmsten Tag ihres Lebens. Sie kämpft dafür, dass Frauen in ähnlicher Situation künftig mehr Respekt erfahren. Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services © Unbekannt | André Hirtz / Funke Foto Services






So hatte sie sich die Geburt nicht vorgestellt. Noch heute plagen sie Schuldgefühle, „dass ich meinem Sohn diese Geburt angetan habe“. Um das Erlebnis zu verarbeiten, spricht sie mit Frauen, die Ähnliches erlebt haben. Frauen wie Annika Schüll. „Es war der schlimmste Tag meines Lebens“, sagt die 34-Jährige. Während der Geburt zwingt man sie, auf dem Rücken zu liegen. Dabei lässt man Frauen heute oft die für sie richtige Position aussuchen. „Ich bin während der Geburt ohnmächtig geworden, es wurde einfach ignoriert.“ Sie wird angeschrien, ihr „Nein“ wird nicht gehört. Sie hat Schmerzen, sie wird als „zickig“ abgetan. „Ich hatte Todesangst.“ Ein Arzt – „90 Kilo schwer“ – wirft sich beim „Kristellern“ auf sie. „Mein Steißbein ist gebrochen.“ Noch während eine Assistenzärztin Annika Schüll „den Riss unten“ wieder zunäht, putzt um sie eine Reinigungskraft den Boden. Die nächste Frau wartet.

Daniela Cordell hat auch 19 Jahre nach der Geburt noch Albträume, sie könnte wieder schwanger werden.
Daniela Cordell hat auch 19 Jahre nach der Geburt noch Albträume, sie könnte wieder schwanger werden. © Unbekannt | André Hirtz / Funke Foto Services






Ohne sich vorzustellen oder ihr auch nur einmal in die Augen zu schauen, greift einer der Ärzte zwischen Daniela Cordells Beine, um die Fruchtblase zu öffnen. Später fühlt sie sich „wie ein Brathähnchen, das aufgeschnitten wird“. „Ohne Betäubung wird der Dammschnitt genäht“, erinnert sich die 46-Jährige. Noch heute, nach 19 Jahren, hat sie Alpträume, dass sie wieder schwanger werden könnte. „Man fühlt sich ausgeliefert“, sagt auch Karin Bürgener (33). Bei der Entbindung ihrer Tochter vor fünf Jahren, schickt man ihren Mann fort. Es würde noch dauern. Aber dann geht es schnell. Sie atme falsch, sagt die Hebamme. Ob sie keinen Geburtsvorbereitungskurs besucht habe? Doch – und zwar bei ihr, an einem Wochenende. Die Hebamme sagt wenig hilfreich: „So ein Crashkurs bringt nichts.“

Karin Bürgener hätte gerne ihren Mann bei der Geburt von Emilia dabei gehabt. Doch er wurde weggeschickt. Sie fühlte sich total ausgeliefert und war froh, als die Geburt vorbei war.
Karin Bürgener hätte gerne ihren Mann bei der Geburt von Emilia dabei gehabt. Doch er wurde weggeschickt. Sie fühlte sich total ausgeliefert und war froh, als die Geburt vorbei war. © Unbekannt | André Hirtz / Funke Foto Services






Die Frauen verteufeln nicht Kaiserschnitte und andere medizinische Eingriffe. Sie wissen, dass es zu wenige Hebammen gibt, dass Ärzte überarbeitet sind und dass es selbst bei der schönsten Geburt zu einen Dammriss kommen kann. Aber das sei kein Grund dafür, Frauen in dieser Ausnahmesituation keine würdevolle Geburt zu ermöglichen. „Ich brauche keine Räucherstäbchen“, betont Annika Schüll. „Ich brauche Respekt.“ Wenige Tage nach der Geburt wird sie zweimal notoperiert. Sie hat Wasser in der Lunge; Gebärmutter und Eierstöcke werden entfernt. Die 34-Jährige kann keine Kinder mehr kriegen.

Hannah hat zwei Jahre später noch einen Sohn bekommen. Sie hat „Hypno-Birthing“ gelernt. Eine Entspannungsmethode, die ihr ermöglicht, „nicht in den Kopf zu pressen“. Zudem vertraut sie ihrer neuen Hebamme, die immer da ist, wenn sie sie braucht – und sich sonst zurückhält. In der Wanne bekommt sie – Seite an Seite mit ihrem Mann – ihren zweiten Sohn. Sie nimmt ihn in den Arm und sofort mit nach Hause. Damit der Große seinen Bruder kennenlernt. Wenn Hannah an dieses Erlebnis zurückdenkt, fühlt sie keine Schuld: „Die zweite Geburt war sehr schön.“

>> TIPPS FÜR EINE GUTE GEBURT


Die Frauen, die hier von ihrer Ohnmacht erzählen, sind keine Einzelfälle, sagt Ursula Höhl (53). Die Heilpraktikerin für Psychotherapie aus Essen, die zwei schöne Geburten erlebt hat, begleitet Menschen in ähnlicher Situation. Sie und die anderen interviewten Frauen nennen Möglichkeiten, damit die Entbindung selbstbestimmter wird:

Ursula Höhl begleitet Frauen, die eine traumatische Geburt erlebt haben: „Häufig wird nur das Kind im Auge behalten, aber die Frauen werden außer Acht gelassen.“
Ursula Höhl begleitet Frauen, die eine traumatische Geburt erlebt haben: „Häufig wird nur das Kind im Auge behalten, aber die Frauen werden außer Acht gelassen.“ © Unbekannt | André Hirtz / Funke Foto Services






Sehr früh eine Beleghebamme suchen, der man vertraut. Da es zu wenige gibt, möglichst direkt nach dem positiven Schwangerschaftstest mit der Suche beginnen. Bei Freunden und im Internet nach Erfahrungen mit Krankenhäusern fragen. Vorbereitungskurse und Infoveranstaltungen besuchen. Sich nicht vor Geburtsthemen wie möglichen Komplikationen drücken, nur weil sie einem Angst machen könnten, betonen erfahrene Mütter immer wieder.

Mit dem Partner sprechen, was man möchte und was nicht – er kann im Kreißsaal für die Frau sprechen, wenn sie Schmerzen hat. Im Vorbereitungsgespräch in der Klinik oder im Geburtshaus genau sagen, was man will und um Eintrag in die Akte bitten. Gespräche können viele Missverständnisse ausräumen. Eine Geburtswunschliste aufschreiben, auf der man diese Punkte benennt. Wer etwa nicht möchte, dass eine Hebamme kräftig an der Nabelschnur zieht, um die Nachgeburt herauszuholen, kann das dort festhalten. Verläuft die Geburt trotzdem traumatisch, können Traumatherapeuten helfen und Selbsthilfegruppen.

>> IM NAMEN DER ROSE - FRAUEN SETZEN EIN ZEICHEN

Frauen, die körperliche oder seelische Gewalt während der Geburt erfahren haben, können am Sonntag, 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, ein Zeichen setzen: Bei der „Roses Revolution“ legen sie rosafarbene Rosen und Briefe mit ihren Erlebnissen und Forderungen vor den Kreißsälen ab, in denen sie Leid erfahren haben. Bilder von den Botschaften werden gesammelt unter facebook.com/RosesRevolutionDeutschland

Der Verein Mother Hood setzt sich für eine bessere Situation in der Geburtshilfe ein. Er fordert etwa ein Vergütungssystem, bei dem der Personalaufwand während der Geburt richtig honoriert wird: mother-hood.de