Dortmund. Gastronom Mario Kalweit aus Dortmund macht Appetit mit seinem Tomaten-Archiv. Wir trafen ihn in einer Bio-Gärtnerei zwischen bunten Tomaten.
Wer hätte gedacht, dass sich eines Tages der US-Präsident Abraham Lincoln einreiht mit der Ägypten-Königin Kleopatra und dem Schlumpfhasser Gargamel? In dem Tomaten-Archiv von Mario Kalweit haben sie ihren Platz gefunden. Der Spitzengastronom kocht nicht nur mit ungewöhnlichen Sorten, er sammelt und dokumentiert sie auch im Internet auf der Seite „Die Genussjäger“. Dabei muss man über viele Tomaten-Namen schmunzeln.
Der Anblick lässt dagegen staunen, denn man sieht mehr als Rot: Gelb, grün, fast schwarz sind einige Tomaten. Die einen Kirschen-klein, die anderen Ochsenherz-groß. In Körben liegen sie vor Kalweit, in der Werkhof-Gärtnerei in Dortmund. Sie gehört zum Demeter-Verband, der nach strengen Bio-Regeln arbeitet. Dort bekommt der 50-Jährige Gemüse-Nachschub für sein Restaurant, alte Sorten, die kaum noch einer kennt. „Weißer Pfirsich“, sagt Rita Breker-Kremer und zeigt den Flaum auf der Tomatenschale, der an eine Pfirsichhaut erinnert. Die 56-Jährige ist nicht nur Gärtnerin, sondern auch Sozialpädagogin. In dem Betrieb arbeiten sozial benachteiligte Jugendliche.
„Das ist eine Reisetomate“, erklärt Kalweit und knipst einen kleinen Teil von der Frucht aus Guatemala ab. Sie sieht aus, als ob mehrere Piccolo-Tomaten zusammengewachsen wären. „Man kann ein Stückchen abreißen und essen und die Tomate geht nicht kaputt.“ Praktisch für eine lange Fahrt. Allerdings könnte man sich genauso gut nach und nach die winzigen gelben Früchte einer anderen Sorte in den Mund schieben: „Gelbe Johannisbeere.“ Der Name erklärt das Aussehen – die Mini-Tomate schmeckt bloß süßer als oft die Beere.
Das wohlgeformte, spitz zulaufende Venusbrüstchen ist heute nicht dabei – sie ist früher reif. Diese Tomate ist eine Italienerin. Doch da hört es schon auf mit dem Klischee. Denn ursprünglich kommt die Tomate nicht aus dem Bolognese-und-Pizza-Land, sondern aus den südamerikanischen Anden. Auch die meisten Sorten, die Kalweit kennt, stammen nicht vom Stiefel, sondern zum Beispiel aus Russland, wie eine von seinen Lieblingssorten: Malakhitovaya Shkatulka. „Sehr weich, unglaublich aromatisch, eine der besten“, schwärmt der Koch. „Als Brotbelag mit Meersalz und gutem Olivenöl – zu schade zum Verkochen“, schreibt er in seinem Archiv zu der grünlichen Sorte.
Die Amerikaner haben sich auf gestreifte Tomaten spezialisiert
Breker-Kremer mag besonders die Berner Rose. „Hervorragende Tomate für Konfitüre“, stimmt Kalweit ihr zu. Aber die Farbe ist eher unscheinbar: Rosen- oder eben Tomatenrot. Da stechen Sorten wie „Green Zebra“ (lassen sich lecker mit Polenta füllen) mehr ins Auge. „Die Amerikaner haben sich auf gestreifte Tomaten spezialisiert.“
„Jede Tomate ist anders“, sagt der Koch. Würde er eine Blindverkostung bestehen, vom Geschmack her auf die Farbe schließen? „Schwierig“, sagt Kalweit: „Grün heißt ja nicht unreif.“ Die kleinen Tomaten sind meist süßer, sagt Breker-Kremer. „Und die weißen-hellen haben etwas weniger Säure.“
Die Gärtnerin hält dem Koch eine dunkle Tomate unter die Nase: „Wie die duftet!“ Was oft intensiv nach Tomate riecht, ist allerdings weniger die Frucht, vielmehr das Grün. Im Supermarkt kommt die Tomate meist aus dem Kühlhaus, dann riecht sie gar nicht mehr. Kalweit: „Eine kalte Tomate hat kein Aroma.“ Im Kühlschrank fühlt sie sich daher nicht so wohl. Doch selbst bei Zimmertemperatur haben nicht alle Sorten ein Aroma zum Dahinschmelzen. Trotzdem will Kalweit sich nicht auf wenige beschränken, er liebt die Vielfalt. Und die Schönheit. Wobei es nicht immer die makellosen Früchte sind, die am besten munden.
Im eigenen Garten hatte Kalweit im vergangenen Jahr 112 Sorten, dieses Jahr waren es 85 – von jeder Sorte eine Pflanze. Das ist immer noch eine große Menge, wenn man bedenkt, dass er alle Tomaten vorzieht. Und zwar in der eigenen Wohnung.
Seine Tomaten-Leidenschaft begann in Frankreich. Dort nahm er vor wenigen Jahren ein paar Samen von einer Tomaten-Show mit. Seitdem sind es immer mehr geworden: 320 verschiedene Samen-Sorten hat er heute zu Hause. Von einem Schreiner ließ er sich einen Schrank bauen mit Schubladen, in denen er in kleinen Fächern die Samen aufbewahrt.
Kalweit ärgert sich, dass das Gesetz den Saatgutherstellern nur eine kleine Angebots-Auswahl erlaubt. Er gewinnt die Samen selbst, wobei das nicht mit gängigen Supermarkt-Tomaten funktioniert, erklärt Breker-Kremer, sondern nur mit „samenfesten Sorten“. Sie schneidet eine Tomate auf, pult mit einem Messer die Samen heraus: „Wir setzen sie sechs Tage lang im Wasser an – die Glibberschicht soll weggehen. Dann spülen wir sie ab, lassen sie trocknen und haben so Samen fürs nächste Jahr.“
Toast-Hawaii mit Ananas-Tomate
Kalweit tauscht sich mit anderen Fans des Paradiesapfels aus, wird zum Jäger von seltenen Sorten. „Es ist wie Briefmarken-Sammeln“, sagt der frühere Fernsehkoch. Wobei seine Sammlerstücke ja nicht nur mit einem Foto im Archiv landen, sondern auch auf dem Teller: als Suppe und Sauce, Ketchup und Chutney. Oder auf Toast Hawaii – mit Ananas-Tomate.
Kennt er noch einen Tipp für den Garten? Wenn die Pflänzchen im Frühjahr wieder in Kalweits Wohnung stehen, betreut er sie besonders: „Jeden Morgen, noch bevor ich die Zeitung hole, streiche ich mit der Hand über die Pflanzen.“ Stärker werden sie durch den imitierten Wind, sie müssen sich nicht an einen Stab lehnen, eine Schnur zum Stützen reicht völlig. „Erst habe ich gedacht: ,So ein bisschen Streicheln bringt nichts.’ Aber das ist super!“
>> DER HOF, DAS RESTAURANT, DAS ARCHIV
Der Hof: Die Gärtnerei ist ein Demeter-Betrieb, in dem sozial benachteiligte Jugendliche arbeiten. Hofladen, Werzenkamp 30, Dortmund, Di. und Fr., 10 bis 18 Uhr: werkhof-diegaertnerei.de
Das Restaurant: La cuisine Mario Kalweit, Lübkestr. 21, Dortmund, Di. - Sa., ab 18 Uhr, s 0231/ 53 16 198, mariokalweit.de
Das Tomaten-Archiv von Mario Kalweit: diegenussjaeger.de