Bochum. . Die Menschen, die nebenan wohnen – und anonym bleiben. In der Bochumer Alsenstraße ist das anders. Das Motto: miteinander statt nebeneinander.

„Wenn man ein Problem hat, muss man nur vor die Tür gehen und es erübrigt sich von selbst.“ Das hat mal eine Nachbarin von Britta Meier gesagt. Und es beschreibt ziemlich gut, warum die Alsenstraße in Bochum etwas Besonderes ist. Die Anwohner haben einen Verein gegründet, das Alsenwohnzimmer. Hier treffen sie sich, tauschen Ideen aus und stellen Projekte auf die Beine. Das Ergebnis: „Man begegnet sich auf der Straße und es ist nicht anonym. Man kennt sich persönlich, zum Beispiel aus einem Projekt“, sagt Britta Meier. Da falle es leicht, mal eben zu helfen.

Eine typische Alsenwoche: Spielgruppe am Montag, gemeinsames Essen am Dienstag, Kreistanzen am Mittwoch. Am Wochenende Food­sharing und Kochen oder Gärtnern im Gemeinschaftsgarten um die Ecke. Jeden Tag ist etwas los im Alsenwohnzimmer. Britta Meier: „Man kann direkt vor der Haustür seinen Horizont erweitern.“ Die zierliche 53-Jährige ist nicht nur Gründungsmitglied des Wohnzimmers, sie ist außerdem für den Alsengarten verantwortlich. Dort wachsen in Hochbeeten Bohnen, Fenchel, Rosenkohl, sogar neuseeländischer Spinat. Jede Menge Grüntöne. Und alles ökologisch angebaut.

Obstbäume, Grill & Chill, Boulebahn und Zen-Garten

Der „Alsengarten“ wird bald zum Park. Obstbäume sind schon gepflanzt, es gibt einen Lehmofen für Brot und Pizza, auch ein Zen-Garten entsteht
Der „Alsengarten“ wird bald zum Park. Obstbäume sind schon gepflanzt, es gibt einen Lehmofen für Brot und Pizza, auch ein Zen-Garten entsteht © Lars Heidrich

„Alleine könnte ich neben der Arbeit keinen Garten bewirtschaften“, sagt Britta Meier. In der Gemeinschaft sind die Aufgaben auf mehrere Schultern verteilt. „Das nimmt den Druck.“ Wer Zeit und Lust hat, kommt zum Gärtnern vorbei, nimmt sich Kräuter mit für seinen Salat oder Rucola. Der schmeckt intensiv, etwas nussig, und scharf im Abgang. Für den Geschmack sind auch zwei Ziegen verantwortlich, die nebenan im Privatgarten ihr zu Hause haben. Sie „liefern“ Dung für den Kompost.

Doch bei dem beschaulichen grünen Fleck im Hinterhof soll es nicht bleiben. Nach und nach entsteht ein Park mit Obstbäumen, Grill & Chill-Ecke, Boulebahn und Zen-Garten. Das Nachbarschaftsnetzwerk breitet sich aus, umspannt mehr als eine Straße. „Ich hätte mir nicht träumen lassen, was daraus entstanden ist“, sagt Britta Meier.

Es lag in der Luft

Alles fing an mit einer Studenten-WG, die ein Straßenfest organisieren wollte. Schon zum Vorbereitungstreffen kamen 40 Leute. „Das lag hier in der Luft.“ Tausend Menschen lockte das Fest damals in die Alsen­straße. Heute, zehn Jahre später, rechnet Britta Meier mit dreimal so vielen Besuchern. Aus dem Straßenfest ist ein Stadtteilfest geworden.

Britta Meier lebt seit 16 Jahren in der Alsenstraße.
Britta Meier lebt seit 16 Jahren in der Alsenstraße. © Kerstin Buchwieser

Auf den Bürgersteigen Tisch an Tisch mit Second-Hand-Klamotten, alten Kassetten, Selbstgenähtem. Die Bochumerin läuft eiligen Schrittes an den Ständen vorbei, winkt Bekannten – „ich komme gleich mal vorbei“ – bleibt stehen, umarmt Freunde – „schön, dich zu sehen.“

Geben und Nehmen ist die Grundidee

Hinter einem Tisch mit Mützen und bunten Stirnbändern steht Katharina Engelke. Die 46-Jährige gehört zum Projekt „Ein Topf und ein Tisch“. Jeden Dienstag treffen sich Nachbarn im Alsenwohnzimmer und bringen Essen mit. Dann wird geteilt. „So haben wir manchmal mehrere Gänge.“ Geben und Nehmen – „das ist die Grundidee des Vereins“, sagt Katharina Engelke.

Klingt harmonisch, aber mal ehrlich: Es gibt doch bestimmt auch Streit. Britta Meier nickt: „Es ist nicht immer einfach.“ Lautstärke sei ein Thema, auch das Erscheinungsbild der Straße und die Sauberkeit des gemeinsamen Wohnzimmers. „Wir versuchen immer, eine Lösung im Gespräch zu finden.“ Wichtig ist, dass sich jemand für eine Aufgabe verantwortlich erklärt, „sich kümmert“. Und das sind erstaunlicherweise nicht immer dieselben. . .

Abenteuer-Urlaub im Hinterhof

Einmal im Monat kommen die Mitglieder des Vereins zusammen. „Dann kann jeder seine Ideen vorschlagen.“ Annette Scheidereit hat sich einen Lehmofen gewünscht – und ihn einfach selbst gebaut. Naja, mit Unterstützung von zehn anderen Helfern und einem Profi. „Man muss an einem Strang ziehen, dann ist alles möglich“, sagt die 55-Jährige, die sich für den Ofenbau extra frei genommen hat. „Das waren zwei Wochen Abenteuer-Urlaub im Hinterhof.“

Ab sofort gibt es regelmäßige Brotback-Events: Man kommt mit fertigem Teig und geht mit einem frisch gebackenen, noch warmen Brotlaib wieder nach Hause. Aber der Lehmofen kann noch mehr. Pizza zum Beispiel. „Die sind wirklich super lecker“, sagt Britta Meier.

Seit 16 Jahren wohnt sie in der Alsenstraße. Auch wenn „das Wohnzimmer“ etwas ganz Besonderes ist – mit den richtigen Leuten klappt das überall, da ist sie sich sicher. „Man muss einfach mal zusammen feiern und dann gucken, was sich daraus entwickelt.“

SÖREN PETERMANN, STADT- UND REGIONALSOZIOLOGE AN DER RUHR-UNI BOCHUM, ÜBER RÄUMLICHE NÄHE UND SOZIALE DISTANZ

Wie hat sich Nachbarschaft im Laufe der Zeit verändert?

Sören Petermann: Nachbarschaft bedeutete in früheren Epochen immer auch Gemeinschaft. Man hat nicht nur nebeneinander gewohnt, sondern auch vieles geteilt. Im Zuge des technologischen Fortschritts sind soziale Kontakte nun viel weniger an den Ort gebunden.

Wir brauchen unsere Nachbarn also nicht mehr?

Man wird mal jemanden brauchen, der die Blumen gießt oder die Post aus dem Briefkasten nimmt, wenn man im Urlaub ist. Aber das müssen nicht die Nachbarn sein, dafür kann man Freunde in der Nähe einspannen. Jemanden in die eigene Wohnung zu lassen, das setzt ein Vertrauensverhältnis voraus, das man nicht zu jedem hat.

Ist das Verhältnis zu unseren Nachbarn also von Anonymität geprägt?

Eine Entwicklung zu mehr Anonymität sehen wir nicht. Aber in Städten kann ein Anonymitätsgefühl aufkommen. Besonders in Häusern mit vielen Mietwohnungen wechselt die Nachbarschaft häufig. Dort werden Nachbarn selten als soziale Kontakte gesehen. Es sind einfach Leute, die nebenan wohnen. In den Randbereichen der Stadt und auf dem Land können sich Nachbarschaftsbeziehungen ganz anders entfalten.

Dort hat man auch länger mit denselben Nachbarn zu tun. Trotzdem versteht man sich nicht mit jedem gut...

Streitigkeiten gibt es sowohl in der ländlichen Gemeinde als auch in der Stadt. Und das kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Häufig fühlt man sich durch irgendein Verhalten der Nachbarn belästigt. In der Stadt kann Belästigung durch Lärm oder Gerüche Grund sein. Auf dem Land ist es dann eher ein Grundstücksstreit, wenn zum Beispiel ein Baum über den Gartenzaun wächst.

Was kann man denn tun, um ein guter Nachbar zu sein?

Das ist schwierig. Denn das Grundverhältnis zwischen Nachbarn ist eher höflich distanziert. Man sollte zum einen versuchen, Rücksicht auf seine Nachbarn zu nehmen. Zum anderen sollte man ihnen nicht sein ganzes Leben ausschütten. Wenn man das Verhältnis vertiefen möchte, geschieht das auf wechselseitiger Basis von Sympathie. Das betrifft in der Regel nur wenige der unmittelbaren Nachbarn.

In der Alsenstraße zeigt sich eine gegenteilige Entwicklung. Die Nachbarn haben ein Netzwerk aufgebaut.

Es gibt Nachbarn, die sich zusammenschließen und sagen: Wir wollen nicht nebeneinanderher leben! Aber das ist etwas Besonderes.