Oberhausen. . Arno G. hat früher Probleme durch Prügel zu lösen versucht. Heute ist er Co-Trainer beim Anti-Aggressivitätstraining – hier seine Geschichte.

Sterkrader Kirmes 2010, die ersten Buden schließen, nicht nur an den Karussells gehen die Lichter aus – da hebt Arno G.* (17, *Name von der Redaktion geändert) die leere Bierflasche und schlägt zu, voll von angestauter Wut, schlägt ein auf einen Fremden. Zuvor hatte es „Stress“ gegeben, eine Rempelei. Als jemand sagte: „Du willst doch nicht etwa mit der Bierflasche zuschlagen?“, stand dieser Satz in der Luft. Heute sagt Arno G.: „Das hat mich eigentlich erst auf die Idee gebracht! Und, zack, habe er ihn mit der Flasche geschlagen und die Faust ins Gesicht gegeben. Zehn, fünfzehn Sekunden später habe ich realisiert: „Hör mal, was ist denn jetzt passiert? Mach mal schnell den Flattermann!“

Arno G. war zuvor kein unbeschriebenes Blatt: Zwei leichtere Körperverletzungen auf dem Kerbholz, dafür hatte er Sozialstunden abgeleistet. Nachdem die Kripo den flüchtenden G. gefasst hatte, forderte der Staatsanwalt ein Jahr Haft wegen schwerer Körperverletzung. Für einen 17-Jährigen mit Abi-Plänen ein echter Schock. „Ich saß da und habe gezittert.“

Zurück in ein gewaltfreies Leben

Das ist nun acht Jahre her. Die Gewalt ist heute nur noch Teil von Arno G.s Vergangenheit. Er wurde verurteilt zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren, erhielt eine Bewährungshelferin und die Auflage, an einem Anti-Aggressivitäts-Training teilzunehmen. Dass er bereit ist, über diesen Teil seiner Lebensgeschichte zu sprechen, während andere solche Dinge totschweigen, liegt auch daran, dass er seit sieben Jahren als Co-Trainer bei Anti-Aggressivitäts-Trainings mitmacht – und anderen jungen Straftätern hilft, zurück in ein gewaltfreies Leben zu finden.

Arno G. ist ein etwas blasser, gut durchtrainierter 25-Jähriger, der mit gelbem Shirt und abgeschnittener Fetzenjeans lässig zu unserem Gespräch vorm Oberhausener Café Transatlantik erscheint. Zwischendurch spielt er mit der Sonnenbrille und der Zigarettenschachtel, sucht mit seinen aufgeweckten, braunen Augen immer wieder den direkten Blickkontakt. Auch seine Sprache ist auf den Punkt. „Das ist ein Grund, warum die mich reingenommen haben. Wenn ich rede, hören die zu…“

„Entweder du mobbst oder du wirst gemobbt.“

Erst nach drei der insgesamt sechs Monate im Kurs war er damals bereit, sich ganz ehrlich mit seiner Tat auseinanderzusetzen: „Natürlich belügt man sich am Anfang selber: Ich hab gar nicht so fest zugeschlagen und so. Dann habe ich gemerkt: Das bringt dich echt nicht weiter.“

Er hat lange darüber nachgedacht, warum er früher Konflikte mit den Fäusten lösen wollte: „Das fing im Elternhaus an. Wenn mein Vater mal überfordert war – und bei meiner Mutter war’s auch so in jungen Jahren –, haben die die Hand erhoben.“ Nächster Schauplatz: Schulhof. „Dass man auf dem Schulhof handgreiflich geworden ist, war an der Tagesordnung. Entweder du mobbst oder du wirst gemobbt.“ Er war auf dem Gymnasium. Auf der Hauptschule, sagen Freunde, war es schlimmer.

„Unsere Quote ist besser als die vom Knast.“

Zwischendurch kam er mit der Oberhausener Bahnhofsszene in Kontakt, wo sich Leute damit brüsteten, was sie ungestraft ausgefressen hatten – das raubte ihm zunächst den Respekt vor dem Gesetz. Hinzu kam damals die Enttäuschung, dass seine Fußballer-Karriere nach drei Jahren in der Jugend von Rot-Weiß-Oberhausen trotz leidenschaftlichen Einsatzes am Ende war. Es kamen viele Faktoren zusammen, die bei dem aggressiven 17-Jährigen damals dazu führten, dass er zuschlug…

Heute, als 25-Jähriger, kann Arno G. viel besser mit Konflikten und auch mit Frustrationen umgehen. Sein Mechatronik-Studium läuft nicht gut, jetzt hat er sich entschlossen, eine Ausbildung zu machen. Und nebenbei macht er mit dem Anti-Aggressivitäts-Training etwas, in dem er Sinn erkennt. „Unsere Quote ist besser als die vom Knast. Wir fangen mit 20 Leuten an, am Ende bleiben zwölf über. Und von denen werden statistisch 30 Prozent nicht mehr gewalttätig.“

Aus dem, was er damals selbst auf der Straße erlebt hat, kann er anderen heute Ratschläge geben. Er weiß: „So ein Kurs geht nur ein halbes Jahr. Aber das gewaltfreie Leben ist eine Lebensaufgabe. Man kann nicht am Ende die Hand drauf legen und sagen: Du bist geheilt. Man muss danach immer wieder die richtigen Entscheidungen treffen.“

>>> Jugendliche mit Aggressionen finden in der LWL-Haardklinik Hilfe

„Ich hau hier alles kurz und klein!“: Ein Satz wie dieser ist den Mitarbeitern der Marler Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe allzu vertraut. Rund 100 aggressive Jugendliche aus ganz NRW werden hier jährlich stationär behandelt. Georg Howahl sprach mit Bereichsleiterin Christine Lawaczeck-Matkares und dem ärztlichen Direktor Claus Rüdiger Haas über die Wurzeln jugendlicher Aggressionen – und die Therapie-Möglichkeiten.

Wenn Kinder ausrasten, was sind die häufigsten Ursachen?

L.-M.: Die sind sehr individuell. Wir stellen hauptsächlich zwei Diagnosen immer wieder: Zum einen steht eine Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen im Vordergrung; zum anderen gibt es etwas seltener, aber immer noch häufig depressive Störungen. In jedem Fall ist wichtig zu überprüfen, welche Geschichte das Kind hat, wie es sich entwickelt hat.

Welche Rolle spielen die Eltern?

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L.-M.: Man kann davon ausgehen, dass das Verhältnis von Eltern und Kind nicht mehr stimmig ist, keine Harmonie mehr besteht in der Familie oder die Eltern sich getrennt haben. Wir versuchen bei einer Therapie, die Eltern oder andere Bezugspersonen mit ins Boot zu holen.

Lässt sich aggressives Verhalten durch Vorbeugung verhindern?

L.-M.: Wir raten grundsätzlich den Eltern, dass sie aufmerksam ihre Kinder begleiten, die Kinder nicht einengen, aber den Draht zu ihnen auch nicht verlieren. Man muss sicherlich auch nicht auf jede kurzfristige, kleine Veränderung sofort reagieren. Kritisch wird es, wenn ein problematisches Verhalten über längere Zeit besteht, es eine gewisse Dynamik entwickelt und in mehreren Lebensbereichen auffällt.

Claus Rüdiger Haas.
Claus Rüdiger Haas. © privat

H.: Die Patienten, die bei uns behandelt werden, haben oft schon andere Hilfsangebote kennengelernt. Da gibt es Jungs mit langer Vorgeschichte, manchmal geht es schon im Kindergarten los, manchmal liegt das berühmte ADHS vor, teils sind die Eltern psychisch krank oder drogenabhängig.

Betrifft das aggressive Verhalten typischerweise Jungs?

H.: Bei den Mädchen spielt eher selbstverletzendes Verhalten eine Rolle. Dieses Phänomen ist seit über 20 Jahren in einem hohen Maße zu beobachten. Grundsätzliches Problem all dieser Jugendlichen ist, dass sie Probleme haben, ihre Gefühle zu regulieren.

Wie gehen Sie eine Therapie an?

L.-M.: Wir verfolgen viele, kleine Ansätze. Bei den Jungs läuft viel über Sport, Bewegung und Ergotherapie. Wir üben Entspannungstechniken ein und bringen Patienten bei, ihre innere Anspannung zu protokollieren. Sie lernen, wie sie mit Belastungen besser umgehen, etwa indem sie die Treppe rauf- und runterrennen, oder Anspannung in kreative Bahnen zu lenken. Nach zwölf Wochen überweisen wir die Jugendlichen oft an ambulante Behandler zurück.

Informationen: haardklinik.lwl.org, 02365/802-2126