Gelsenkirchen. . Brauchen Töchter heute noch eine andere Erziehung? Beim „Internationalen Mädchengarten“ in Gelsenkirchen ist vieles erlaubt – nur kein Junge.

Sarah muss sich anstrengen. Ihre kleinen Mädchenhände stecken in großen Arbeitshandschuhen. Sie halten und führen nicht ohne Mühe einen Akkubohrer. Der frisst sich durch einen Block weichen Nadelholzes. Loch für Loch bohrt die Elfjährige an diesem heißen Sommernachmittag. Sie möchte eine Wohnung für Wildbienen schreinern, vielleicht sogar für Hummeln. Gemeinsam mit anderen Mädchen baut sie heute ein Insektenhotel. Geschafft! Ihr Holzblock hat jetzt ausreichend viele Löcher. „Das war schwer“, sagt das Mädchen, das zum ersten Mal im Leben einen Akkubohrer in den Händen hielt. „Zu Hause habe ich so etwas noch nie gemacht. Aber es macht Spaß. Ich würde es wieder tun.“

Renate Janßen (r.) zeigt den Mädchen Sarah (l.) und Chantal, wie sie die Regalbretter zusammensetzen.
Renate Janßen (r.) zeigt den Mädchen Sarah (l.) und Chantal, wie sie die Regalbretter zusammensetzen. © Fabian Strauch

Genau darum geht es hier im „Internationalen Mädchengarten“ in Gelsenkirchen. Deutschlandweit gebe es kein vergleichbares Projekt, erzählt Renate Janßen. Das klingt so groß. Dabei handelt es sich auf den ersten Blick nur um einen kleinen Garten. Das Konzept dahinter jedoch hat es in sich. Es beinhaltet drei Aspekte: „Die Mädchen sollen einen Freiraum haben nur für sich – und ohne Jungen“, erklärt die Initiatorin und Leiterin des Projektes. „Sie sollen hier Spaß haben und Dinge kennenlernen, die sie sonst nicht erleben“, ist der zweite Grundgedanke. Vom Akkubohrer bis zum Regenwurm. „Die sorgen für echte Aufregung hier.“ Der dritte Punkt: „Das ist unser feministischer Anspruch. Wir möchten, dass Mädchen Dinge tun, die nicht dem Rollenbild entsprechen.“

Alte Rollenbilder auf den Kopf gestellt

Hier schließt sich der Argumentationskreis. Das geht nämlich nur, wenn keine Jungs dabei sind. „Die Erfahrung zeigt, die Jungen übernehmen instinktiv die Aufgaben, die ihrem Rollenbild entsprechen. Die greifen zum Beispiel als erstes zum Hammer. Mädchen nehmen sich dann zurück und sagen, das ist ja nicht so wichtig.“ Austricksen kann man diesen Effekt nur über den Ausschluss von Jungen. Erst dann machen sich heranwachsende Frauen frei vom früh erlernten gesellschaftlichen Bild der Weiblichkeit, vom sozialen Geschlecht im Gegensatz zum biologischen, das heute unter dem Begriff „Gender“ in aller Munde ist – und doch noch in zu vielen Köpfen verankert.

Es sei nicht grundsätzlich so, dass die Emanzipation in Deutschland rückläufig sei. Das erlebe Renate Janßen weder hier noch in ihrem Hauptjob, als Leiterin der Fachstelle interkulturelle Mädchenarbeit NRW. Aber es gebe solche und solche. „Wir leben in einer Zeit der Paradoxie. Auf der einen Seite gibt es Mädchen, die selbstbewusst durchs Leben gehen – und andere.“ Das größte Problem der vergangenen Jahre sei das von den Medien geprägte Mädchenbild. Schlank, schön, zum Model geboren. Erfolgreich und begehrenswert ist, wer dem stereotypen Bild eines idealisierten weiblichen Körpers entspricht. Intelligenz, innere Werte? Fehlanzeige. „Das wird langsam besser.“ Dennoch weist ein Drittel der Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren Hinweise auf Essstörungen auf.

Die Mädchen machen sich schmutzig

Hier im Garten scheint Aussehen egal zu sein. Unbekümmert machen sich die Mädchen bei ihrer Arbeit schmutzig, pflücken in der Pause im Nachbargarten Beeren, deren Saft nun die Finger ziert. Mandy und Chantal nutzen die Zeit für eine kleine Führung durch den Garten. Der Weg geht entlang einiger Obststräucher und kleiner Apfelbäume. „Wir machen manchmal Experimente“, sagt Mandy geheimnisvoll. „Da stellen wir selbst Farben her. Aus den Rosen“, erklärt die Achtjährige. „Und aus Roter Beete“, ergänzt die 18-jährige Chantal.

Ein Bauwagen steht da, er passt ins Bild vom alternativen Projekt. Von einer kleinen Ausnahme abgesehen: einem Spiegel, der am Zaun daneben hängt. Den ziert ein gemaltes Einhorn. Im letzten Jahr lebten die Mädels sich – und das Klischee – ganz aus. Auch kein Problem.

Hinter dem Bauwagen verändert sich das Gespräch. Die Mädchen werden emotionaler, tiefgründiger. „Manchmal setzen wir uns in die Sonne, machen ein Picknick und erzählen uns, was uns so bedrückt“, sagt Chantal. Das sei hier möglich – unabhängig vom Alter. „Wir sind alle Freunde. Hier können wir uns den anderen anvertrauen.“

Sie wirken wie eine eingeschworene Truppe. Viele Mädchen kommen regelmäßig jede Woche her, andere setzen auch mal aus. Zum erweiterten Kreis gehören Mädchen aus verschiedenen Kulturen, Mädchen mit und ohne besonderen Unterstützungsbedarf. Sie alle seien bis jetzt selbstbewusster gegangen, als sie gekommen sind, so die Projektleiterin Renate Janßen. Dabei sei noch viel Arbeit zu leisten innerhalb der Gesellschaft.

Gerade im Moment. Wo viele das hart erkämpfte Gut der Gleichberechtigung von Mann und Frau gefährdet sehen durch den Zuzug islamischer Familien. „Aber was die meisten nicht sehen, ist, dass ein Mädchen auch mit Kopftuch emanzipiert sein kann. Das ist oft einfach Bestandteil der Identität. Die machen dennoch ihre Karriere. Auch Geflüchtete sind ganz unterschiedlich in ihren Wertvorstellungen. Da muss man genau hinschauen. Allein vom Aussehen kann man das nicht ableiten.“ Dann betont sie noch: „Ich bin natürlich strikt dagegen, Mädchen zum Tragen eines Kopftuches zu zwingen.“

Arbeitszeit: Das Grundgerüst für das Insektenhotel soll heute fertig werden. „Wir bauen jetzt ein Regal, in das die Blöcke mit den Löchern hineingestellt werden. Da ziehen dann die Insekten ein.“ – „Geht das wirklich?“ Michelle kann es noch nicht so richtig glauben. Renate Janßen lässt die Mädchen nun aktiv teilhaben an den Entscheidungen zur Gestaltung des Insektenhotels. „Wie hoch soll das erste Brett angebracht werden?“ Die Antwort: zehn Zentimeter. Schwierig. Denn: „Was, wenn wir das einbuddeln müssen, damit es besser steht?“

Liebevolle Pädagogik, fernab jeden Fachbuches, führt die Mädchen heran an die technischen Fragen von Konstruktion und Ausführung. Aus dem Akkubohrer wird schnell ein Akkuschrauber. Michelle macht ihre Erfahrungen mit den Schrauben, die das Regal zusammenhalten sollen. Den Leim aufzutragen, das war eben noch Spaß. Bei über 30 Grad im Schatten ist das Schauben für die junge Dame hingegen richtig Arbeit. „Ist das wirklich für alle Insekten?“, fragt Sarah, die schon länger über diese Frage nachdenkt. Michelle kennt die Antwort: „Ja. Sogar für Ameisen.“

>> DER KONTAKT ZUM MÄDCHENGARTEN

Der Internationale Mädchengarten ist wirklich ein Garten in Gelsenkirchen, den Mädchen mit und ohne Behinderung besuchen. Sie können dort Kräuter, Obst und Gemüse anbauen. Oder bei Kreativ- und Handwerk-Kursen dabei sein. Interessierte melden sich bitte bei der Leiterin, Renate Janßen, per E-Mail: info@maedchengarten.de. Mehr Infos: maedchengartenge.wordpress.com

Der Maria-Sibylla-Merian e.V., der Träger des Mädchengartens, sammelt Spenden für das Projekt. Maria Sibylla Merian (1647 - 1717) aus Frankfurt am Main war Naturforscherin und Malerin. Sie war für die damalige Zeit eine hoch emanzipierte Frau. Obgleich verheiratet und Mutter, übte sie ihren Beruf aus. Später verließ sie ihren Mann, lebte und arbeitete selbstbestimmt. Ihr Porträt zierte früher den „neuen“ 500-DM-Schein.