Bochum. . Menschen, die sich selbst als weltoffen bezeichnen, können trotzdem von Vorurteilen gelenkt werden. Über versteckten Rassismus und Sexismus...

Wer würde schon von sich behaupten, Vorurteile zu haben? Die Philosophin Beate Krickel von der Ruhr-Uni Bochum analysiert das Phänomen, dass auch angeblich tolerante Menschen nicht frei sind von vorschnellen Meinungen. Maren Schürmann sprach mit der 33-Jährigen darüber, wie versteckte Vorurteile im Unterbewusstsein unser Verhalten beeinflussen.

Frau Krickel, Hand aufs Herz, haben Sie selbst Vorurteile?

Krickel: Ganz bestimmt. Wahrscheinlich sind die meisten implizite Vorurteile. Vielleicht habe ich sogar explizite. Aber über die wollen wir ja jetzt nicht sprechen.

Wie unterscheiden die sich?

Philosophin Beate Krickel.
Philosophin Beate Krickel. © Tim Kramer

Wenn ich einen Menschen frage: ,Wer macht die beste Schokolade?’ Und er sagt: ,Die Schweizer.’ Dann ist das seine explizite Überzeugung. Wenn ich frage: ,Finden Sie, dass weiße Kinder klüger sind als schwarze?’ Und er sagt: ,Nein, natürlich sind die Kinder gleich klug, unabhängig von der Hautfarbe.’ Er aber das Gefühl hat, intuitiv, dass weiße Kinder doch klüger sind, dann ist das ein implizites Vorurteil.

Schwarze Kinder haben es dann entsprechend schwerer . . .

Anschaulich wird das Phänomen in sozialpsychologischen Studien, bei denen Versuchspersonen Lebensläufe gezeigt werden. Sie sind identisch, doch auf dem einen Bewerbungsfoto ist eine schwarze Person zu sehen, auf dem anderen eine weiße. Das Experiment gibt es auch mit Männern und Frauen. Man stellt fest, dass Versuchspersonen eher die Männer und eher die Weißen einstellen – obwohl es der gleiche Lebenslauf ist.

Und dabei denken Sie jetzt nicht an rechtsradikale Personen, sondern an Menschen, die sich eigentlich als tolerant bezeichnen?

Genau. Bei Menschen mit rechtsradikaler Gesinnung gibt es noch andere Probleme. Sie stützen ihre Meinung oft auf Überzeugungen, die falsch sind. Oder Einzelfälle werden aufgebauscht. Die Ursachen für Rechtsradikalismus sind vielfältig. In meiner Analyse geht es um Leute, die es gut meinen, die aber trotzdem ein Verhalten zeigen, das dazu nicht passt. Wie ein Professor, der an der Uni alle gleich behandeln möchte, aber dann doch unbewusst manche Personen besser benotet.

Wie kann man solche impliziten, unbewussten Vorurteile erkennen?

Es gibt unterschiedliche Testverfahren, die Psychologen nutzen, um implizite Vorurteile zu entdecken. Zum Beispiel den so genannten „impliziten Assoziationstest“, den jeder online ausprobieren kann (https://implicit.harvard.edu/implicit/germany/). Interessanterweise haben Studien aber auch gezeigt: Unter den richtigen Bedingungen sind Versuchspersonen selbstständig in der Lage zu erkennen, dass sie implizite Vorurteile haben — sie sind sogar in der Lage genau vorherzusagen, wie sie in einem impliziten Assoziationstest abschneiden werden.

Und wie reagieren sie, wenn man ihnen den Spiegel vorhält?

Wo Salz ist, da ist auch Pfeffer - ein Vorurteil, mit dem es ich gut leben lässt.
Wo Salz ist, da ist auch Pfeffer - ein Vorurteil, mit dem es ich gut leben lässt.

Sie sind überrascht – sogar Versuchspersonen, die ihre Ergebnisse in solchen Tests korrekt vorhersagen konnten. Die Versuchspersonen haben vorher gar nicht gemerkt, dass sie diese Neigungen haben. Und da stellt sich die Frage: Woran liegt es, dass Menschen von sich behaupten, ich bin nicht sexistisch, ich bin nicht rassistisch, ich behandle alle gleich. Aber trotzdem bei solchen Tests zeigen, dass das nicht stimmt.

Haben Sie eine Erklärung?

Verdrängung. In meinem Modell, bei dem ich mich auf die Psychoanalyse beziehe, gehe ich davon aus, dass die Versuchspersonen affektive Reaktionen oder Gefühle gegenüber Schwarzen, Frauen, Türken oder anderen Menschen haben, aber ihre Aufmerksamkeit absichtlich nicht darauf lenken. Um, wie es Freud sagen würde, ihr Ego zu verteidigen oder aus Selbstschutz, weil es mit dem Selbstbild nicht zusammenpasst. Das geschieht impulsiv: Immer wenn sie merken, dass zum Beispiel Angst in ihnen aufkommt, dann richten sie ihre Aufmerksamkeit reflexartig auf etwas anderes. Dieses Weglenken trainiert man sich an, bis man automatisch seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf sein Innenleben richtet, wenn man mit Schwarzen, Frauen oder Türken zu tun hat.

Hat es auch etwas damit zu tun, dass es ja eine große gesellschaftliche Erwartung ist, dass die Menschen tolerant sind?

Auf jeden Fall. Das Bild, was wir von uns selbst haben, ist davon geprägt, was die Gesellschaft von uns erwartet. Wir lernen in einer Gesellschaft, was es heißt, ein guter Mensch zu sein und warum man das sein will.

Ihr Modell basiert auf Ergebnissen aus der Psychologie-Forschung. Werden Sie Ihre Theorie weiter überprüfen?

Ja, ich habe Ideen, wie man mit Experimenten diese Aufmerksamkeitsverschiebung untersuchen kann. Ich bin auch in Kontakt mit Neurowissenschaftlern hier an der Ruhr-Universität Bochum, die sich ebenfalls mit dem Thema Verdrängung beschäftigen, die so genannten Neuropsychoanalytiker. Sie wollen untersuchen, wie Verdrängung im Gehirn stattfindet. Es ist ein unbewusster Prozess, aber wie genau das funktioniert, ist noch gar nicht klar.

Sind wir diesem unbewussten Prozess machtlos ausgeliefert? Was können Menschen tun?

Ehrlich mit sich selbst sein. Man kann nichts gegen die affektiven Reaktionen tun. Aber man kann Vorkehrungen treffen, damit man Menschen fair behandelt. Eine Professorin kann Hausarbeiten anonym korrigieren. Das Gleiche gilt für Bewerbungen. Journalisten können versuchen, sich ihrer impliziten Vorurteile bewusst zu werden, damit sie nicht durch ihre Sprache Vorurteile verstärken. Und jeder, der Bus fährt und sich zwischen zwei freien Plätzen entscheiden muss – der eine neben einem fremd aussehenden Menschen, der andere neben einem der eigenen Person ähnlichen Fahrgast –, der kann sich fragen: ,Habe ich diesen Impuls, mich nicht neben den fremd aussehenden Menschen zu setzen?’ Und sich dann fragen: ,Ist dieser Impuls gerechtfertigt?’ Wer sich schließlich absichtlich auf diesen Platz setzt, kann testen, was passiert. Und natürlich passiert da nichts.

>>>Vorurteile sind nicht immer schlecht

Vorurteile führen dazu, dass wir Menschen schon beim ersten Sehen schlecht beurteilen. Nur weil uns Aussehen oder Verhalten fremd sind. Vielleicht haben wir die Furcht vor dem Anderssein schon von den Eltern vorgelebt bekommen. Die Entstehung von Vorurteilen ist ein vielschichtiger Prozess. Doch im Grunde helfen uns die vorschnellen Meinungen, gut durch den Alltag zu kommen.

Wenn wir einen Salzstreuer sehen, wissen wir, dass der Pfeffer nicht weit ist. Wenn wir einen Raum betreten, tasten wir nach einem Lichtschalter neben der Tür. Wir wundern uns erst dann, wenn er ausnahmsweise mal woanders zu finden ist. Würden wir nicht alles schnell in „Schubladen“ einordnen, müsste unser Gehirn bei jedem Tür-Öffnen lange grübeln. Das Schubladendenken hilft uns, viele Informationen schnell zu verarbeiten. Allerdings lässt es uns auch vom Einzelfall aufs Allgemeine schließen, wenn es überhaupt nicht der Realität entspricht. Und dann ist das Vorurteil schnell ein falsches Urteil.