Bochum. . Hebamme Anna Wegmann-Sahm hat ein offenes Ohr für die Sorgen von Müttern und Schwangeren. Stillende Frauen kämpfen immer noch mit Tabus.

Anna Wegmann-Sahm hat es sich im Schatten des Bochumer Waldorfkindergartens gemütlich gemacht. Bei fast 30 Grad schnippelt sie Apfelscheiben als Vorbereitung auf das Stillcafé, das die Hebamme und Stillberaterin seit zwei Jahren leitet. Plötzlich möchte Tochter Olivia mit einer bestimmten Bitte auf ihren Schoß klettern. Wegmann-Sahm legt das Messer zur Seite und hebt die Dreijährige hoch. „Ich stille sie immer noch ein kleines bisschen“, verrät die 34-Jährige. Gerade diese Form des Langzeitstillens sei leider immer noch verpönt.

Langsam füllt sich die kleine Sitzecke hinter dem Kindergarten. Daniela Kieselbach breitet eine karierte Decke auf dem Boden aus, bevor sie Leif und Erik darauf legt. Mit großen Augen erkunden die neun Monate alten Zwillinge ihre Umgebung. Nachdem beide die ersten Eindrücke aufgesogen haben, robben sie quietschend auf ihren Bäuchen umher. Gequengelt wird nicht.

Die Geschwister sind satt. Doch wenn der Magen knurrt, ist Mama zur Stelle. „Ich stille die beiden parallel. Da werde ich schon mal schief angeguckt“, sagt die 35-Jährige. In jeder Armbeuge ein hungriges Baby – das was nach Arbeit anmutet, ist für Kieselbach Entspannung: „Es sind zwanzig Minuten zum Luft holen.“

Stillen beruhigt die Kinder

Das Stillcafé in Bochum Langendreer ist gut besucht.
Das Stillcafé in Bochum Langendreer ist gut besucht.

Gestillt wird nicht nur wenn der Hunger groß ist, sondern auch das Geschrei. „Stillen kommt nicht umsonst von Stille“, sagt Daniela Kieselbach und lächelt. Es dient dazu, die Kinder in stressigen Situationen zu beruhigen oder zu trösten. Das klappt mal mehr, mal weniger gut.

Kerstin Vespers menschlicher Wecker klingelte nachts stündlich. Der 22 Monate alte Jakob ließ sich immer nur kurz beruhigen. „Mittlerweile sind wir zwar ein eingespieltes Team, aber nicht nur die Nächte waren holprig, sondern auch der Anfang“, erinnert sich die 37-Jährige. Das sei bei vielen Müttern so, weiß Stillberaterin Anna Wegmann-Sahm, die im Stillcafé ein offenes Ohr für die Sorgen der Mütter hat.

Obwohl es zur Natur des Menschen gehört, kann es immer wieder zu Problemen kommen – selbst beim ersten „Andocken“. Schläfrige Babys, falsches Anlegen, Milchstau oder Entzündungen können die Gründe dafür sein.

Hebamme wünscht sich mehr Offenheit

Angesichts solcher Probleme in der Startphase werfen manche Mütter das Handtuch und greifen zum Milchpulver. „Es gab Momente, in denen ich vor einem Berg aus Fragezeichen stand“, erinnert sich Mareike Schomann, „stillende Mütter brauchen fachliche und auch moralische Unterstützung, die sie oftmals nicht bekommen.“

Der kleine Mats ist ihr erstes Kind. Stunde um Stunde saß die 31-Jährige mit ihm im Stillsessel. Papa Simon hat die beiden in der Zeit so gut wie möglich unterstützt. Als Mann sei er jedoch in dieser Zeit etwas außen vor gewesen. „Abnehmen kann einem das halt keiner. Weder die Großeltern noch der Papa. Von Natur aus geht das nicht“, zuckt Daniela Kieselbach mit den Schultern.

Wie stillfreundlich ist Deutschland?

Das Stillcafé findet jeden ersten Dienstag im Monat (außerhalb der Schließzeiten) in den Räumlichkeiten des Familienzentrums im Waldorfkindergarten Bochum-Langendreer statt. Mehr Infos auf www.hebamme-annasahm.de

Wie stillfreundlich ist Deutschland? Diese Frage möchte das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft klären. In Deutschland besteht kaum Überblick über Strukturen, Akteure und Maßnahmen zur Stillförderung. In einem zweijährigen Forschungsprojekt wird nun systematisch ermittelt, wo genau eine wirksame, effiziente und nachhaltige Stillförderung ansetzen sollte.

Seit kurzem ist Mats abgestillt und bekommt nun auch Gläschen von seinem Papa. „Dabei kuscheln wir oft“, sagt der 34-Jährige, hebt Mats vom Boden hoch und streicht ihm den Spielplatz-Sand von den Füßen.

Dass Simon Schomann als Mann beim Stillcafé eher in der Minderheit ist, stört ihn nicht. „Bei uns im Freundeskreis sehen wir das ganz locker. Wir gehen offen mit dem Thema um und es ist niemandem peinlich, vor anderen zu stillen.“ Diese Offenheit wünscht sich Wegmann-Sahm von mehr Menschen: „Das Recht auf Stillen ist im Mutterschutzgesetz verankert.“

In den 70ern war Stillen out

Gleichbehandlungsgesetze schützen nicht immer. Komische Blicke und fiese Sprüche hat fast jede Teilnehmerin des Stillcafés schon mal erlebt. Gerade das Langzeitstillen, bei dem auch ältere Kinder die Brust bekommen, sei tabu. „Manche finden das befremdlich. Doch so lange Mutter und Kind das wollen, ist es völlig in Ordnung“, betont Anna Wegmann-Sahm und greift damit eine Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation auf, „bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahrs oder darüber hinaus“ zu stillen, dann allerdings mit Beikost füttern.

Muttermilch ist an das Kind angepasst

Hebamme Anna Wegmann-Sahm stillt ihre dreijährige Tochter Olivia immer noch „ein bisschen“. Das Langzeitstillen ist oft ein Tabu.
Hebamme Anna Wegmann-Sahm stillt ihre dreijährige Tochter Olivia immer noch „ein bisschen“. Das Langzeitstillen ist oft ein Tabu.

Ob Langzeit oder nicht, in den 60er und 70er Jahren sei das Stillen gänzlich out gewesen. „Man hielt die Flaschennahrung sogar für gesünder“, sagt die Hebamme. Das Ammenmärchen von dünner werdender Muttermilch je älter ein Kind werde, halte sich bis heute hartnäckig.

„Die Milch ist immer an das Kind angepasst. Wenn sie häufiger in Kontakt mit anderen Kindern kommen, werden sogar Antikörper nachgeschoben“, sagt die Stillberaterin. In der Milch schwimmen die Antikörper der Mutter, die beim Trinken weitergegeben werden und das Immunsystem des Säuglings stärken.

Außerdem enthalte die Milch viele Eiweiße und Fette, die für eine gute Entwicklung des Gehirns nötig sind. „Stillen ist kein nice to have, sondern die best angepasste Nahrung für das Kind“, sagt die Hebamme. Aber auch: „Wer partout nicht stillen will, für den gibt es auch andere Wege wie das Abpumpen und Umfüllen der eigenen Muttermilch. Beide Seiten haben sonst nichts davon.“