Köln. . Mädchen stehen auf Pferde. Jungs eher nicht. In Reitställen herrscht ein augenfälliges Ungleichgewicht der Geschlechter.

Sofie ist begeistert. Max ist entsetzt. Bis vor drei Wochen fand er seine kleine Schwester ganz in Ordnung. Aber seit Sofie zum Geburtstag bei Hannah im Reitstall eingeladen war, hat sie nur noch ein einziges Thema: „Ich will ein Pferd!“ Lars findet Pferde eher doof. Und ein bisschen unheimlich. Obwohl er das nie zugeben würde. Paul, sein Kumpel, wiegelt ab: „Normal! Die hat den Pferdevirus!“ Leonie, Pauls Schwester, hat den auch. Aber schon viel länger.

Auf den „Pferdevirus“ ist unbedingt Verlass. Früher oder später kriegt er sie doch. Die Mädchen, die Prinzessin Lillifee adé gesagt haben, die feststellen mussten, dass ihr Zwerghamster zwar putzig ist, aber nicht sehr empfänglich für Berührungen oder dass das mit dem Ballett doch keine so gute Idee war. Nix mit Tieren und nix mit Natur. Die Industrie tut ihr Übriges, den Wunsch nach einem Freund auf Hufen zu schüren. Nicht erst seit 1991, als Junghexe Bibi umsattelte und seitdem mit Freundin Tina regelmäßig Abenteuer auf dem Reiterhof erlebt.

Wie lange bleiben Jungs dabei?

2015 gaben in einer Umfrage bezüglich der beliebtesten Freizeitaktivitäten von Mädchen in Deutschland rund 18 Prozent der Neun- bis 14-Jährigen Reiten als Favoriten an (Quelle: statista.com). Und lagen damit an zweiter Stelle von zehn genannten Hobbys.

Mädchen stehen auf Pferde. Jungs eher nicht. So kategorisch mag das Birgit Landwehr nicht stehen lassen. Seit 2012 engagiert sich die Dülmenerin im NRW-Landesverband der „Vereinigung der Freizeitreiter und -fahrer in Deutschland e.V.“ (VFD). Mit bundesweit mehr als 72 000 Mitgliedern ist die VFD das größte deutsche Netzwerk dieser Art. „In Reiterfamilien sieht das anders aus“, sagt Landwehr, „da reiten Jungs genauso häufig wie die Mädchen. Die Frage ist nur: Wie lange bleiben die Jungs dabei?“

Erlebt hat sie das bei ihrem Sohn: „Die älteren Schwestern haben voltigiert, also hat er das auch ein Jahr gemacht, bis er als einziger Junge in der Gruppe übrig geblieben ist.“

Reiten hat viel mit Interaktion zu tun

1994 legten der Psychologe Harald A. Euler und die Sportwissenschaftlerin Helga Adolph eine bis heute wegweisende Studie über pferdevernarrte Mädchen vor. Als eines der Hauptmotive nennt sie den Bindungscharakter: „Das Pferd ist zwischen Puppe und Partner das ultimative Kuscheltier.“ Außerdem demnach wichtig: das „Fürsorgemotiv“ sowie „die Sehnsucht nach unverfälschtem Naturerlebnis und bewältigbarem Abenteuer“. Später wurden auch Jungen befragt. Die Motorräder und Raumschiffe – also schnelle, aber leblose Maschinen – viel spannender fanden als Pferde.

Deckt sich das mit den Erfahrungen von Birgit Landwehr? „Generell ist es so, dass man zu einem Pferd nicht hingehen kann und sagen: ,So und so mach ich das heute.’ Man muss einen Plan haben. Aber ob man die gesteckten Ziele heute, in einer Woche oder in einem Jahr erreicht, hängt von unendlich vielen Faktoren ab und manchmal wechselt man mitten drin die Richtung, wenn das Pferd signalisiert, dass es nicht mehr mitmachen kann oder will. Das hat viel mit Interaktion zu tun.“

Reitunterricht müsse anders gestaltet werden

Jungen dagegen ginge es ab einem gewissen Alter viel mehr um Durchsetzungsvermögen: „Ein Junge braucht schon mal einen Sparringspartner – aber bei einem Pferd, selbst wenn es nur 400 Kilo wiegt, wie meins, gerät er rasch an seine Grenzen und sucht sich lieber andere Sportarten.“

© Funkegrafik NRW Denise Ohms

Muss das zwangsläufig so kommen? Rein theoretisch nicht. „Wo bleibt der männliche Nachwuchs?“ fragte sich die „Deutsche Reiterliche Vereinigung e.V.“, der Bundesverband für Pferdesport und Pferdezucht. Und beauftragte Harald A. Euler und sein Team Ende der 1990er zu untersuchen, wie man Jungen fürs Reiten gewinnen kann. Eulers Ergebnisse: Jungen wollen wissen, wer „der Beste, der Mutigste, der Stärkste ist“. Sie sind nicht nur stärker an Dominanz interessiert, sondern auch risikobereiter. Deswegen, so die Schlussfolgerung, müsse ihr Reitunterricht anders gestaltet werden (siehe Text unten).

Aber der Weg ist nicht leicht. Noch immer lässt das weibliche Geschlecht das männliche in Sachen Pferdebegeisterung weit hinter sich. Nicht nur im Teenie-Alter. Laut einer Analyse des Instituts für Demoskopie Allensbach bezeichnen sich rund 3,89 Millionen Deutsche ab 14 Jahren als Reiter, 1,25 Millionen betreiben diese Sportart intensiv. Aber rund 78 Prozent sind weiblich. Und 64 Prozent der deutschen Pferdebesitzer sind es ebenfalls.

„Männer sehen die Pferdehaltung eher als Projekt an“, weiß Landwehr, „bei Frauen dagegen steht dieses unglaublich beglückende Gefühl des Gebens und Nehmens im Vordergrund, wenn sie in den Stall kommen und ihr Pferd sehen“.

Eine ganz neue Phase des Lebens

Sie selbst lernte als junges Mädchen das Reiten, „dann kamen das Abitur und Studium, danach die Familie. In der Zeit hatten wir 25 Jahre nur Kontakt zu den Voltigierpferden des Vereins durch die Kinder. Um Reiten zu lernen“, so die 58-Jährige, „ist es aber nie zu spät.“ Tatsächlich liegt Reiten für Späteinsteiger im Trend. Auch ganz ohne Kinderzeit auf dem Ponyhof: „Wenn man als Erwachsener damit anfängt, läutet das eine ganz andere Phase des Lebens ein. Das ist wie ein Umzug in ein anderes Land, der neue Horizonte eröffnet.“

Und Erkenntnisse vermittelt. Etwa, dass Reiten Generationen verbindet, das Gemeinschaftsgefühl fördert, die Fähigkeit, sich anderen gegenüber achtsam und einfühlsam zu verhalten: „Im Umgang mit dem Pferd erwirbt man Kompetenzen im Umgang mit Menschen.“ Inzwischen haben das auch Firmen erkannt, die Spitzenmanagern Seminare auf dem Reiterhof verordnen. Wären die als Jungen dort ein- und ausgegangen, hätte man sich das mit Sicherheit sparen können.

>>> Steigbügelhilfe für männlichen Reiternachwuchs

2006 rief die „Deutsche Reiterliche Vereinigung e.V.“ das bundesweite Projekt „Jungs aufs Pferd“ ins Leben. Aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen entstanden in Zusammenarbeit mit Pädagogen und Pferdewirten Programme, die den speziellen Bedürfnissen von Jungen entgegenkamen: mehr Abenteuer, mehr Action, mehr Risiko. Statt stundenlang an der Longe zu reiten, auch mal einen Abstecher in den Wald, dazu viele Gelegenheiten, sich mit anderen zu messen oder seinen Mut unter Beweis zu stellen.

Der Sohn von Reiterin Birgit Landwehr (auf dem Schimmel) ist ebenfalls aufs Pferd gestiegen.
Der Sohn von Reiterin Birgit Landwehr (auf dem Schimmel) ist ebenfalls aufs Pferd gestiegen. © Landwehr

Und: Es müssen reine Jungengruppen sein. Bis dato hatte die Übermacht der „Pferdemädchen“ selbst motivierte Nachwuchsreiter in die Flucht geschlagen. Wer sich plötzlich als einziger Junge allein unter Mädchen wiederfindet, fühlt sich fehl am Platze. Und muss sich überdies noch von anderen, nicht reitenden Jungen verspotten lassen: „Weiberkram!“ Fehlende Identifikationsfiguren (in Pferdebüchern sind die Helden Heldinnen), der körperliche Vorsprung von Mädchen in Sachen Feinmotorik, gepaart mit der niederschmetternden Erkenntnis: „Die können das ja viel besser als ich“ – all das tat ein Übriges.

Inzwischen ist „Jungs aufs Pferd“ nicht mehr Teil des bundesweiten Programms der „Deutschen Reiterlichen Vereinigung“. Vielerorts fehlten die männlichen Aus- und Vorbilder, und auch unter den Berufsreitern sind es mehr Frauen als Männer.

Aber der „Pferdesportverband Westfalen e.V.“ hat die Initiative „Jungs aufs Pferd“ noch im Angebot. Das Förderprogramm bietet unter anderem so spannende Aktivitäten wie Treckerfahren, Treffen mit erfolgreichen Turnierreitern und den Bau eines eigenen Geschicklichkeitsparcours.