Gelsenkirchen. . Arsenals Superstar Mesut Özil hat in Gelsenkirchen seine Tricks gelernt. Ein Besuch auf dem Bolzplatz, wo heute noch bis abends gekickt wird.
Mesut Özil sitzt heute nicht auf dem Stromkasten am Affenkäfig und wartet auf Mitspieler. Mesut Özil ist in London, oder sonst wo in der Fußball-Welt. Der 29-Jährige ist einer der begabtesten Profispieler Deutschlands. Ein echter Weltmeister.
Dass der Deutsch-Türke in der Olgastraße in Gelsenkirchen-Bulmke kickte, ist unzählige Fußballspiele mit Schalke 04, Werder Bremen, FC Arsenal oder der Nationalelf her. Doch die Kinder, sie spielen heute noch zwischen den Häusern und träumen: vom Sieg, vom entscheidenden Tor, von einer großen Karriere.
Ob jemand Mesut Özil kennt? Große Augen starren den Frager an. Einem Moment der Stille folgt ein „Wer?“. Eine Handvoll Kinder steht dicht gedrängt auf der matschigen Asche und weiß nicht, was los ist.
Dann meldet sich ein blasser Junge aus der zweiten Reihe. Samir sagt: „Klar, der hat doch hier gespielt.“
Hat er. Mit Bruder Mutlu hat Özil als kleiner Junge die Älteren ausgetrickst, den ganzen Tag, bis die Sonne hinter den Dächern verschwand. In der Bornstraße gewohnt und aufgewachsen, im Affenkäfig fürs Leben gelernt. „Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Kinder und Jugendliche auf unseren Bolzplätzen lernen, fair und unvoreingenommen miteinander umzugehen“, sagt Özil. Das Deutsche Fußballmuseum konnte den Profi des englischen Erstliga-Klubs FC Arsenal als Schirmherr für seine Initiative gewinnen, Bolzplätze zum Kulturerbe zu machen. „Der Bolzplatz ist frei von Zwängen, jeder Spieler wird integriert und ist willkommen“, sagt Özil.
Erwachsene spielen oft mit
Auch Journalisten. „Wollen Sie mitspielen?“, fragt Samir, der als einziger Junge fließend Deutsch spricht. Warum nicht? Pfeif auf die sauberen Schuhe und spiel mit. „Der Herr will mitspielen!“, ruft Samir und bestimmt schnell die Mannschaften. Der Herr spielt mit den jüngsten: Mohamed, Mohamed, Mohamed und Alla.
Der Herr muss laufen, und zwar schnell, zu Ahmad, der den Ball an der Seitenlinie hat. „You go there“, sagt der elfjährige Mohamed. „Er gut.“ Ist er. Ahmad ist 13 und „Stürmer“. Im Verein spielt er nicht, aber dribbeln kann er. Als einziger hat er richtige und zugeschnürte Fußballschuhe an und die Hosenbeine zu einem Viertel hochgekrempelt. Im Winter. „Is‘ nich kalt“, sagt er und tunnelt den Reporter. Die anderen Kinder lachen. „Ist doch eine gute Schlagzeile“, sagt Samir, der pfiffige Zwölfjährige: „Reporter getunnelt.“
Auf dem Bolzplatz in Gelsenkirchen hat auch Mesut Özil gelernt, sich durchzusetzen. Später im Verein habe er nie Angst gehabt, gegen Ältere zu spielen, „weil ich es gewohnt war, gegen regelrechte Pakete zu spielen“, sagte er in einem Interview der Welt. Pakete stehen an diesem Nachmittag nicht auf dem Platz. Am Rand schauen zwei ältere Männer zu, unterhalten sich. „Manchmal spielen die Erwachsenen auch mit“, sagt Samir in einer Pause. „Am Wochenende sind hier manchmal zwanzig Leute.“
Der Affenkäfig in Gelsenkirchen, er ist so typisch für das Ruhrgebiet. In den Ecken wächst das Gras, weil nie Ecken getreten werden, vor den Toren ist die Erde aufgeweicht. Die Zäune, die dem Platz seinen Namen geben, wachsen wie Bäume in den Himmel, Bäume aus Draht, über die die Häuser wie neugierige Nachbarn ihre Köpfe recken.
Vielleicht ist er der nächste Özil
Die Nachbarn sehen die ersten beiden Tore von Stürmer Ahmad. Der türkische Junge mit dem leichten Bartwuchs über der Oberlippe sagt wenig, dribbelt aber auf dem Platz zwei, drei Gegenspieler aus. Vielleicht ist er ja der nächste Özil.
Ein paar Minuten später gelingen dem Team mit dem Herrn der Anschlusstreffer und der Ausgleich. Doppelpass mit Mohamed, der zum 2:2 trifft. Der Elfjährige rennt zurück, klatscht ab. Auch der achtjährige Mohamed kommt und schlägt ein. Seine Schnürsenkel sind offen. Er grinst, spricht nicht, und sagt doch genug.
„Es gab nur Fußball für uns, von morgens bis abends. Wir haben alles andere um uns herum vergessen und oft so lange gespielt, bis man den Ball nicht mehr sehen konnte“, erinnerte sich Özil in einem Interview mit „11 Freunde“.
Am Stromkasten, wo einst Mesut Özil auf seine Mitspieler wartete, stehen Arbeiter und trinken ein Feierabend-Bier, reden laut und rauchen. Ab und zu kommt ein Auto aus dem Häusertunnel der Olgastraße und schiebt sich vorbei. Häuser neben Häuser, Menschen neben Menschen und mittendrin die Kinder.
Mesut Özil ist in einer der ärmsten Städte Deutschlands aufgewachsen. Fußball lässt das vergessen, Fußball macht reich.
In der Trinkhalle kaufte Özil Wassereis
Bevor Özil reich wurde, lebte er in bescheidenen Verhältnissen. Sein Bruder Mutlu und er hätten nur fünf Mark Taschengeld im Monat bekommen, „und die waren schnell weg, wenn wir verloren haben“. Der Verlierer musste Döner ausgeben. Und ab und an war auch ein Wassereis drin. Vom Bulmker Getränkemarkt.
Ein paar Meter weiter steht Tayfun Alpman in seinem Laden an der Olgastraße und erzählt von seiner Lebenswirklichkeit: 2001 als 28-Jähriger habe er das Geschäft aufgemacht, seitdem arbeite er „sieben Tage die Woche, von 9 bis 20 Uhr“. Tayfun Alpman steht zwischen Zigaretten, Zeitschriften, Bier und leeren Tiefkühltruhen. „Im Sommer kommen die Kinder und kaufen Eis. Im Winter ist nichts los.“
Der Kioskbesitzer erinnert sich
Tayfun Alpman hat graue Haare. Er ist 45 Jahre alt. Gegen die Kälte trägt er eine Weste. Er sieht müde aus. Aber als er auf Fußball angesprochen wird, strahlt er. „Im Sommer ist Weltmeisterschaft. Da guck ich die Spiele im Internet.“ Da sieht er Mesut Özil, der als kleiner Junge in seinem Laden stand. „Wie lange ist das her?“, fragt er und zeigt gleichzeitig mit der Hand die Größe des kleinen Özils: So knapp über der Ladentheke, so groß wird er wohl gewesen sein. „War lange nicht mehr hier.“
Ahmed und die anderen Kinder werden noch lange hier bleiben. Vielleicht schafft es jemand nach oben. Wer weiß das schon. Ahmed denkt nach dem 5:2-Sieg schon an morgen. Er wird wieder da sein. Und Mohamed. Und Samir. Und Alla vermutlich auch. Der Reporter nicht. Özil auch nicht. Der ist in London. Weltfußballer. Star. Ein Junge aus dem Affenkäfig.