Essen.. 14 Prozent der Erwachsenen in Deutschland sind Analphabeten. Philipp Leber ist einer von denen, der es ihnen beibringt. Er gibt Kurse an der VHS.
Langsam, aber flüssig liest Susanne Pohl* die Frage vom Arbeitsblatt vor. Ihr rechter Zeigefinger fährt unterhalb des Satzes entlang, damit sie nicht in der Zeile verrutscht. Sie betont jede einzelne Silbe sehr deutlich. Als sie fertig ist, schaut sie Philipp Leber erwartungsvoll und gespannt an. „Sehr gut“, lobt Leber sie. Susanne Pohl lächelt zufrieden.
Sie lernt bei Philipp Leber Lesen und Schreiben. Eine übliche Deutschstunde ist dies jedoch nicht. Leber ist 27 Jahre alt und studiert in Dortmund Deutsch und Kunst auf Lehramt für die Sekundarstufe I. Susanne Pohl ist Ende 50 und Analphabetin, Philipp Leber ist ihr Lehrer. Jeden Mittwochabend bringt er ihr und vier weiteren Erwachsenen in der Volkshochschule (VHS) Essen das Lesen und Schreiben bei.
Lernen ohne Druck
Während die Kursteilnehmer konzentriert eine Einladung an einen anderen Alphabetisierungskurs formulieren, gibt Leber Hilfestellung, ohne belehrend zu sein. Es ist ein Spagat, den er bewältigen muss: Einerseits möchte er, dass seine Kursteilnehmer etwas lernen. Auf der anderen Seite darf er keinen Druck aufbauen, denn den haben die Analphabeten zu Genüge erlebt.
„Mir ist wichtig, dass ich in diesem Kurs eine angenehme Atmosphäre aufbaue. Ohne eine gute zwischenmenschliche Beziehung funktioniert es nicht“, erklärt Leber. Nur so sei es möglich, die Motivation der Teilnehmer zu halten. „Schließlich sind alle freiwillig hier“, führt Leber aus.
„Therapeutischer Effekt“
Dies sei der einzige Ort, an dem seine Schüler wegen ihres Problems nicht ausgegrenzt würden. Philipp Leber spricht von einem „therapeutischen Effekt“, den der Kurs habe. „In diesem Raum finden sich Gleichgesinnte wieder, vor denen sie sich nicht verstecken müssen.“
Er wolle auch keine Hierarchie im Kurs aufbauen. Dennoch eine professionelle Distanz zu bewahren, sei manchmal schwierig für ihn. „Die Distanz ist bei mir intuitionsgeleitet, statt auf eine strikte Trennung zwischen Lehrer und Schüler zu setzen.“
Alle Formen des Analphabetismus in einem Kurs
Der Analphabetismus hat verschiedene Formen, alle finden sich in Lebers Kursen montags und mittwochs wieder. Da gibt es zum einen Menschen, die nie Lesen und Schreiben gelernt haben, weil sie nicht zur Schule gegangen sind, so wie die 72-jährige Irina Kalinin* aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie musste als Kind auf dem Feld arbeiten und durfte nicht zur Schule gehen. Andere, wie Christel Arnold* können zwar Lesen, haben aber Probleme mit dem Schreiben – oder umgekehrt. Dritte können wie Heinz Zeigler* zwar im geringen Maße lesen und schreiben, sind aber nicht in der Lage, den Sinn von längeren Texten zu verstehen.
Doch wie viele sind davon betroffen? Die Fachbereichsleiterin der Abteilung Alphabetisierung für Deutschsprachige an der VHS Essen, Meike Altenkamp, nimmt die Zahlen der Leo-Studie als Grundlage, die von 14 Prozent der deutschen Bevölkerung spricht. „Bricht man die Prozentzahl runter, bedeutet das, dass alleine in Essen mehr als 30 000 Menschen von Analphabetismus betroffen sind.“
Eine Zahl, die stutzig macht: Wer in Deutschland zur Schule geht, lernt Lesen und Schreiben schon als Kind. Viele Analphabeten haben wie Franziska Lange* auch einen Schulabschluss. Trotzdem können sie sich kaum schriftlich verständigen.
Sich anderen anzuvertrauen ist schwer
Viele, die zu den Alphabetisierungskursen kommen, haben schlechte Erfahrungen mit dem Lernen gemacht. Wer in der Schule schlecht war in Mathe, wird sich in der Freizeit wohl kaum gerne mit Formeln und Zahlen beschäftigen. Während aber eine Rechenschwäche gesellschaftlich durchaus akzeptiert wird, haben es Analphabeten schwer. „Ich wurde ganz oft für dumm gehalten“, erinnert sich Franziska Lange.
Sich anderen anzuvertrauen ist schwer, erst recht, wenn es der eigene Chef ist. Irina Kalinin ist zwar pensioniert, arbeitet aber immer noch gelegentlich in einer Großküche und kam gut zurecht. Als sie vor einigen Jahren befördert wurde, musste sie jedoch plötzlich Bestellungen aufgeben.
Auch Akademiker betroffen
Vor einer Weile hat Philipp Leber den Alpha-VHS-Blog ins Leben gerufen. Dort werden selbstgeschriebene Texte seiner Kursteilnehmer veröffentlicht. Briefe, die die Erfahrungen mit den Schwierigkeiten im Alltag widerspiegeln. „Ich habe Probleme mit dem Schreiben und Lesen, weil ich in einem Heim aufgewachsen bin“, steht da.
Laut Meike Altenkamp von der VHS Essen habe der klassische Fall von Analphabetismus seinen Ursprung im Elternhaus. Wobei man vom Analphabetismus nicht in jedem Fall auf ein bildungsfernes Elternhaus schließen könne. Es gäbe schließlich auch Akademiker mit dem gleichen Problem.
Mittlerweile können sie kleine Texte lesen
Dennoch hatten einige der Kursteilnehmer von Philipp Leber eine schwierige Kindheit. Heinz Zeiglers Mutter starb früh, sein Vater war ständig auf Montage. Geübt habe mit ihm keiner. „Hier merke ich aber, dass es in kleinen Schritten so langsam besser wird.“ Die übrigen Kursteilnehmer sehen das genauso. Einige konnten am Anfang nicht einen Buchstaben erkennen, sind jetzt aber in der Lage, kleine Texte zu lesen und selbst zu schreiben.
Heinz Zeigler träumt davon, dass er irgendwann ohne Hilfe einen Brief schreiben kann. Christel Arnold möchte eines Tages frei aus dem Bauch heraus etwas schreiben können, ohne sich dafür konzentrieren zu müssen. Träume, die Philipp Leber ihnen erfüllen möchte, als Lernbegleiter und Mentor.
*Namen von der Redaktion geändert
Anlaufstellen für Analphabeten
Volkshochschulen bieten Kurse für Deutschsprachige an.
Ansprechpartnerin für Alphabetisierung für Deutschsprachige an der VHS Essen ist Meike Altenkamp (Tel.: 0201/884 32 10;
meike.altenkamp@vhs.essen.de). Im Vorfeld zum Kurs gibt es ein vertrauliches Beratungsgespräch in der VHS, wo Betroffene einem für sie passenden Kurs zugeordnet werden.
Pro Semester nehmen laut Meike Altenkamp etwa 70 Essenerinnen und Essener dieses Angebot wahr. Die Gruppen sind klein, somit ist ein individuelles Lernen möglich.
Auch andere Volkshochschulen im Ruhrgebiet bieten Alphabetisierungskurse für Deutschsprachige an, so zum Beispiel Gelsenkirchen, Mülheim und Dortmund. Darüber hinaus können sich Betroffene und Angehörige anonym an das Alfatelefon des Bundesverbandes Alphabetisierung wenden (0800/53 33 44 55).
Beratungen sind auch beim Alphanetz NRW möglich. Dort sind alle Volkshochschulen aufgelistet, die Alphabetisierungskurse in Nordrhein-Westfalen geben.