Essen. Das liebevolle Lippenbekenntnis wird gern erforscht. Wir wissen einiges übers Küssen. Doch allen Studien zum Trotz bleibt ein letzter Zauber.
Hand aufs Herz, wann haben Sie zum letzten Mal geküsst? Wenn Sie sich gerade nicht erinnern können, ist es eindeutig zu lange her. Dabei ist der Frühling jene Zeit, in der die Gefühle wieder erwachen, und in der viele das Küssen wiederentdecken. Warum wir uns nun zärtlich mit den Lippen berühren – und vielleicht sogar mit den Zungen? Dazu haben Wissenschaftler zahlreiche Theorien entwickelt. Doch für die stichhaltigste Antwort braucht man weder Evolutionsforschung noch Biochemie, denn sie lautet: Weil’s so schön ist!
Hirnareale von Frischverliebten werden stimuliert
Was haben Forscher nicht schon angestellt, um das Küssen zu erforschen. Sie haben Speichelproben genommen, die Muskelarbeit vermessen und Pärchen in die dunklen Röhren eines Magnetresonanztomografen gesteckt, um ihre Hirnaktivität beim Lippen- und Zungenspiel zu registrieren.
Ob angesichts einer solchen, für viele eher zu den Horrorvisionen zählenden Atmosphäre dieselben Ergebnisse herauskommen wie beim einfühlsamen Stelldichein auf einer lauschigen Lichtung an einem warmen Abend? Man darf es bezweifeln. Was bei solchen Versuchen jedoch als Erkenntnis herauskam, war nichts, was man nicht auch schon so erahnt hätte: Bei Frischverliebten werden andere Hirnareale stimuliert als bei jenen, die schon lange in einer Beziehung sind.
Wir küssen heute 12 Sekunden im Durchschnitt

Die Deutschen und das Küssen, das ist so eine Geschichte für sich: 3,2-mal küssen wir im Durchschnitt pro Tag – und liegen damit europaweit auf einem der hinteren Plätze. Die Spitzenreiter, die Franzosen nämlich, kommen auf sechs Küsse pro Tag. Aber immerhin: Es reicht, um im Leben etwa 110.000-mal zu küssen, man verbringt also gut mehr als sechs volle Tage mit dem Knutschen, was für viele eine himmlische Vorstellung sein dürfte – vorausgesetzt ist eine durchschnittliche Kussdauer (ja, auch die kennt man) von 12 Sekunden.
In dieser Beziehung sind die Deutschen wesentlich besser geworden, denn in den 80er-Jahren waren es nur 5,5 Sekunden – und da sagt man, das Leben sei heute hektischer als damals. Bei der Erklärung, warum wir uns überhaupt küssen, herrschen vornehmlich drei Theorien, die unterschiedlich appetitlich sind.
Als wir noch Primaten waren...
Die erste hat nichts mit Romantik oder Erotik zu tun, sondern geht in die Zeit zurück, als wir noch Primaten waren. Denn durch Übertragung von Mund zu Mund fütterten die Mütter ihren Nachwuchs. Bei einigen Stämmen in Afrika findet sich noch heute diese Sitte.
Die zweite Erklärung zielt schon eher in den Bereich des zwischengeschlechtlichen Austauschs. Sie sieht den Kuss als Vorspiel an, mit dem der Mann das Begehren der Frau entfachen will – und umgekehrt. Zugleich geht es um die Prüfung des Partners: Seinen Geruch, seinen Geschmack, seine wahren Gefühle.
Denn: Beim Küssen kann man sich nicht verstellen – anders als beim Sex, wo Technik und Erfahrung über mangelnde emotionale Beteiligung hinwegtäuschen mögen. „Es gibt kein besseres Barometer für den Zustand des Paares als den Kuss“, befindet der französische Kulturwissenschaftler Alexandre Lacroix in seinem Essay „Kleiner Versuch über das Küssen“ (Matthes & Seitz, 175 S., 16,99 €).
Zudem geht’s bei diesem Austausch um das Immunsystem: Bei einem Kuss können über 250 Bakterienarten übertragen werden und mehrere zehntausend Viren – was nicht unbedingt schlecht ist, denn ein intaktes Immunsystem lernt, auf diese Arten zu reagieren, ohne dass man gleich erkrankt. Und tatsächlich ist ja nur ein Bruchteil aller Keime auch zugleich Krankheitserreger, Millionen von ihnen tragen wir auf unserer Haut und in uns herum, ohne dass wir Schaden nehmen.
Der romantische Kuss ist gar nicht überall verbreitet
Für die dritte Erklärung müssen wir den Urvater der Couchtherapie bemühen: Wenn es nach Sigmund Freud geht, ist das Küssen die orale Ersatzhandlung dafür, dass wir als Säuglinge an der Brust der Mutter gestillt wurden. Nach dem Abstillen übernimmt das Saugen am Daumen diese Funktion – und danach die eben das Küssen.
Alle diese Thesen würden ja voraussetzen, dass Küssen eine allgemeingültige menschliche Verhaltensweise ist. Doch dem widersprechen Erkenntnisse, die Forscher des Kinsey-Instituts in Indiana, USA, herausgefunden haben. Sie haben das Phänomen des Küssens weltweit unter die Lupe genommen und festgestellt: Der intime Kuss ist nur bei 77 von insgesamt 168 untersuchten Kulturen verbreitet, der Rest lässt das Küssen einfach bleiben. Obwohl man davon ausgehen kann (siehe oben), dass all diese Völker von mundfütternden Primaten abstammen, alle Sex haben – und an der Mutterbrust gestillt wurden.
Adrenalin und Puls schnellen in die Höhe
Da stehen sie nun, die Wissenschaftler, und sind so weise wie zuvor. Zumindest was die allumspannende Theorie des Küssens angeht.
Aber müssen wir wirklich alles wissen über den Anstieg von Glücks- und das Sinken von Stresshormonen, über Pulsschläge (über 100 pro Minute) und den Adrenalinspiegel, wenn sich zwei Lippenpaare langsam, sanft einander annähern? Nein, denn auch ohne Zahlen, Daten, Fakten weiß jeder Mensch spätestens mit dem Eintritt in die Pubertät: Küssen macht glücklich. Und mehr küssen macht noch ein bisschen glücklicher.
>>> Filmreife Küsse – und ihre Geschichten
- 1 (Alp-)Traum von einem Kuss: Vivien Leigh und Clark Gable in „Vom Winde verweht“. Sieht toll aus, war’s aber nicht. Leigh qualmte damals vier Schachteln pro Tag und litt an Tuberkulose. Gable konnte Leigh nicht leiden und aß vorm Dreh Knoblauch.
- 2 Über den Kuss zwischen Humphrey Bogart und Ingrid Bergman in „Casablanca“ ist nichts Schlimmes bekannt – nur dass wohl jemand mit der Stoppuhr daneben stand. Filmküsse durften damals nur drei Sekunden dauern.
- 3 Die Welt stand kopf: Als Tobey Maguire in „Spider Man“ Kirsten Dunst küsste, hatte er wenig Spaß: Er hing im Regen, das Blut stieg ihm in den Kopf – und Wasser lief ihm in die Nase.
- 4 Tierlieb: In „Planet der Affen“ berührten sich Charlton Heston und Kim Hunter mit den Lippen. Aber nur fast: Die Affendame trug eine lästige Schicht aus Latex.
- 5 Das ist nur bei Disney romantisch: Wenn in „Susi & Strolch“ die Spaghetti-Enden zwischen den Streunern kürzer werden, schmilzt mancher dahin. Aber findet man diese Hund-zu-Hund-Beatmung erotisch? Wohl kaum.
- 6 Harte Cowboys, zarte Lippen: Tatsächlich war die Aufregung groß, als sich Jake Gyllenhaal und Heath Ledger in „Brokeback Mountain“ küssten. Der eigentliche Skandal: Der US-Mythos des Cowboys wurde in Frage gestellt.