Ruhrgebiet. 600 Kilometer Autobahn ziehen sich durchs Ruhrgebiet, das dichteste Netz Deutschlands. Doch fertig ist man damit auch nach all den Jahren nicht.

Der Faltplan dieses „Shell-Wegweisers“ für Nordrhein-Westfalen ist brüchig, nur höchster Respekt hält ihn zusammen. Denn er ist von 1957, der Star in seinem Archiv*, und informiert in jeder Hinsicht allumfassend: Eingezeichnet sind „Grenzen, für deren Überquerung ein Ausweis benötigt wird (Niederlande, Belgien)“ ebenso wie „Alle wichtigen Aussichtspunkte mit Angabe der Blickrichtung“ oder „Staubfreie und nicht staubfreie Straßen“. Letzteres kommt demnächst wieder, darf man risikofrei prophezeien.

Aber die eigentliche Sensation ist doch die Straßenkarte. Das, was sie zeigt, weiß man ja, aber hier kann man es einmal sehen: Da ist eine einzige Autobahn in NRW, sie kommt von Bielefeld, schrappt am Nordrand des Ruhrgebiets entlang und verschwindet in den Süden. Die gute alte A 2. Und sonst? Ein Stummel bei Köln/Bonn. Ein Stummel bei Aachen/Düren. Und rote Strichelchen zeigen die Routen an, die mal die A 1 bei Hagen und die A 3 nach Holland werden wollen.

Das war’s. Willkommen auf der Landstraße!

Das Ruhrgebiet mit nur einer Autobahn: Der Faltplan des ’Shell-Wegweisers“ von 1957 weist nur die A 2 aus, die im Norden am Revier entlangschrappt.
Das Ruhrgebiet mit nur einer Autobahn: Der Faltplan des ’Shell-Wegweisers“ von 1957 weist nur die A 2 aus, die im Norden am Revier entlangschrappt. © Volker Hartmann

Willkommen im Jahr 1957, in dem die Menschen erstmals mehr Autos als Kräder anmelden; denn nicht das Auto hatte das Pferd abgelöst, sondern das Motorrad. Erst jetzt explodiert die Zahl der Autos, das macht Druck: Die gröbsten Kriegsschäden sind beseitigt, die Fernautobahnen aus den 30er-Jahren nahezu fertiggebaut. Im Ruhrgebiet beginnt die Epoche, die ihm aus dem Nichts das dichteste Autobahnnetz Deutschlands bescheren wird. Fortschritt, den man befahren kann.

Netz kann man übrigens wörtlich nehmen: Wenn man es nicht zu genau nimmt, erkennt man noch auf einer Karte der Gegenwart eine Art Waben- oder Karostruktur der Autobahnen. Gebaut nach dem Prinzip: Kommen Sie hier nicht durch, kommen Sie bestimmt dort durch.

Es begann vor etwa 60 Jahren

Auf drei Parallel-Autobahnen in Ost-West-Richtung in 15 Kilometern Abstand voneinander. Vier in Nord-Süd-Richtung. Und ein paar Diagonalen, Tangenten und Zubringern. Fachleute vergleichen das mit Los Angeles: die 600 Kilometer Autobahn im Regionalverband Ruhr. Es ist die Grundlage dafür, dass heute hier ungezählte Menschen von Logistik leben können, Spedition, Transport, Verteilung.

Das begann vor etwa 60 Jahren. 1957 fangen die Arbeiter bei Kassel an, die Autobahn nach Dortmund zu bauen; entsteht der erste Abschnitt der A 59 in Duisburg; beginnen die vorsichtige Planung einer Sauerlandlinie und die Arbeit an Emmerich-Oberhausen. Da kommt in Fahrt, was 60 Jahre später und 600 Kilometer Autobahn mehr noch nicht ganz zu Ende ist.

Wenn ich das Fenster aufmache, kann ich die B 1 fühlen

Die B1 bei Bochum Anfang der 60er-Jahre: Noch fehlen die vielen Autos.
Die B1 bei Bochum Anfang der 60er-Jahre: Noch fehlen die vielen Autos.

„Schüpp schüpp, und quatsch’ nicht“, um mal Michael Groschek (SPD) aus Oberhausen zu zitieren, den einzigen Landesminister mit einem eigenen Sound. „Die Baustelle ist ein Versprechen und keine Bedrohung“, ist auch so ein Satz von ihm. Heute sagt er: „Wir werden das Land an seinen Schienen und Straßen entlang umgraben.“ Erhalten und verbreitern stehen an: Neubau kaum noch. Ein bisschen 44, ein bisschen 52, ein bisschen 448: Zwischen 2011 und 2015 sind nur vier Kilometer hinzugekommen.

Der Mann, der die ganzen alten Geschichten vielleicht am besten kennt, sitzt genau richtig: in Raum 301 eines Hochhauses in Bochum mit bestem Blick auf die A 40. „Wenn ich das Fenster aufmache, kann ich die B 1 fühlen“, sagt Andreas Gilweit: „Ich sag’ immer noch B 1.“

Ein Archiv aus Fleisch und Blut

Seit 1977 arbeitet er, der gelernte Vermesser, bei „Straßen NRW“ und hat viele Abteilungen durchlaufen. Der Landesbetrieb wird alle paar Jahre umstrukturiert und hat daher kein richtiges Archiv; aber er hat Gilweit, der vergessene Papiere aufhebt und aufschlägt, die er in verstaubten Ecken findet. Fragt man „Straßen NRW“ nach etwas Historischem, kommt der Rückruf von Gilweit.

Zum Beispiel hat er diese Karte des „Siedlungsverbandes Ruhrkohlebezirk“ aus den 50er-Jahren: Da ist das ganze Ruhrgebiet durchzogen von einem Netz von Straßen, die autobahnähnlich werden sollten. Sie heißen „OW3“ („Ost-West 3“), „NS7“ („Nord-Süd 7“) oder „D4“ („Diagonale 4“). Mit dem Abstand von 60 Jahren muss man sagen: Ja, es gab Abstriche, aber im Großen und Ganzen ist es so gekommen. Wir sind Autobahn.

Die Leute fanden andere Wege

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Im und am Ruhrgebiet: A1, 2, 3, 31, 40, 42, 43, 44, 45, 46, 52, 57, 59, 448, 516, 524, 535 – und da fehlt noch die ehemalige, weil zurückgestufte 443 bei Unna. Natürlich steht man hier sehr schnell im Stau, morgens und abends, bevorzugt auf der 40, der 42, 43, 46, 52, 59 . . . ohne Anspruch auf Vollständigkeit jetzt.

Aber das Netz funktioniert: Als die 40 oder die 59 monatelang gesperrt waren und Journalisten am Morgen des ersten Tages den Staukatastrophen mit tiefstem Mitgefühl entgegenfieberten, da passierte – nichts. Die Leute fanden andere Wege. Kommen Sie hier nicht durch, kommen Sie dort durch. Und übrigens sind weitere 700 Kilometer Straße autobahnähnlich.

„Wo kein Widerstand war, hat man immer gebaut.“

Und auch das ist richtig: Verglichen mit Staus in Stuttgart, Prag oder Bukarest, in Bangalore oder dem chinesischen Chengdu ist der Stillstand auf der 40 allenfalls eine kurze Verschnaufpause.

Liebe zur Autobahn: Als die A 40 im Jahr 2010 für das „Still-Leben“ gesperrt wurde, wurde sie zur Party-Meile.
Liebe zur Autobahn: Als die A 40 im Jahr 2010 für das „Still-Leben“ gesperrt wurde, wurde sie zur Party-Meile. © Jakob Studnar

Gilweit kann wunderbar erzählen aus der Zeit des Autobahnbaus. „Die 70er-Jahre waren die heiße Zeit der Straßenplanung, sososo“ (bewegt die Hand schnell wie hackend) „und sososo“ (bewegt die Hand schnell wie wischend). „Wir haben immer versucht zu bauen, Geld war ja da“, erinnert sich der 60-Jährige, oder: „Da, wo kein Widerstand war, hat man immer gebaut.“

Das erklärt den einen oder anderen funktionslosen Torso, der in der Landschaft steht; das erklärt aber auch, wie die Autobahnbauer Sachzwänge schufen: Indem sie ständig Abschnitte bauten, erschien es irgendwann selbst bei manch bekämpfter Autobahn sinnvoller, sie in Gottes Namen doch noch zu vollenden. Aus Perspektive ihrer Planer: brillantes Stückwerk.

Störende Häuser am Wegesrand einfach abgebrannt

Gilweit hat da ein Fotobuch zum Ausbau des Ruhrschnellweges. In den 20ern ist er angelegt worden, als OW4, dreispurig, die mittlere Fahrspur gehört beiden Richtungen. Jetzt, in den 60ern, wird die B 1 vierspurig: Sie wirkt ziemlich leer, man erkennt den legendären Fahrradweg, den es damals an der Straße gab, ein Bild zeigt eine Schulklasse, die sie überquert. Auf dem nächsten Foto brennt ein Haus. Herr Gilweit? „Das hat man damals so gemacht. Um Kosten zu sparen, wurden die Häuser, die weichen mussten, nicht abgerissen, sondern abgebrannt.“

Die Erfindung der Opelspange

Das machen sie heute nicht mehr. Das Netz ist aber auch fertig. In den 20er-Jahren, die kommen, wird es weitgehend sechsspurig werden, ja achtspurig wie die Autobahn 3 in Oberhausen. Und wie war das mit dem brillanten Stückwerk?

Als die Regierung Clement die „Opelspange“ erfand, die heutige Autobahn 448, um Bochum südlich umkurven zu können und die 40 damit zu entlasten, da war eines der Argumente: In Bochums Zentrum könne man die 40 überhaupt nicht mehr verbreitern, da sei alles zu zugebaut.

Jetzt, im Bundesverkehrswegeplan bis 2030, steht plötzlich doch drin, sie auf sechs Spuren zu bringen. Aber Häuser, die Autobahnkirche, der Tunnel, der Trog? „Das“, sagt Gilweit, „wird jetzt alles . . . beplant“.

*beim „Forum Geschichtskultur“ auf Zeche Zollverein in Essen

Erfolg an der A 43 - und das Scheitern vieler Projekte

Alles hier atmet Aufbruch, nimmt man mal den routinierten Stau da hinten auf der A 43 einfach nicht zur Kenntnis. Auf einer Herner Brache neben der Autobahn stemmen drei kräftige Kerle von Heitkamp Masten mit den Fahnen Deutschlands und Nordrhein-Westfalens in windige Höhen, als wären sie die siegreichen GIs von Iwo Jima; gastronomisches Personal zapft Pilschen vor und grillt Würstchen an, Leute stehen plaudernd beisammen, und insgesamt liegt über diesem sonnigen Freitagnachmittag sowie den weißen Partyzelten eine heitere Grundstimmung.

Spatenstich zum Ausbau des Autobahnkreuzes (v.l.): Landtagsabgeordneter Alexander Vogt, Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering, Staatssekretär Michael Odenwald, Landesverkehrsminister Michael Groschek, Hernes Oberbürgermeister Frank Dudda, Dirk Griepenburg (Straßen NRW).
Spatenstich zum Ausbau des Autobahnkreuzes (v.l.): Landtagsabgeordneter Alexander Vogt, Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering, Staatssekretär Michael Odenwald, Landesverkehrsminister Michael Groschek, Hernes Oberbürgermeister Frank Dudda, Dirk Griepenburg (Straßen NRW). © Ingo Otto

„Jetzt geht’s los“, sagt ein Ingenieur zum anderen und meint den sechsspurigen Ausbau auf Herner Gebiet. Gleich wird Landesverkehrsminister Michael Groschek (SPD) zum Spaten greifen und die Verbreiterungsarbeiten so entschlossen wie symbolisch eröffnen. „Gegen Stau hilft nur Bau“, wird er sagen, oder: „Wir können Spatenstich.“ Was an diesem Termin wirklich besonders ist: Niemand versucht, die Verbreiterung der Autobahn mit einer Klage zu stoppen. Also: Niemand!

Keiner der Beteiligten kann sich erinnern, dass das schon jemals vorgekommen wäre.

Klagen kamen von vielen Seiten

Klagen von Bürgern, Klagen von Städten haben in den letzten 30 Jahren etliche Autobahnprojekte verhindert. Da kamen eigentlich zwei Dinge zusammen: Die Klagen kamen von der einen Seite, auf der anderen standen Straßenbauer, denen das Geld ausging. Man reichte einander die Hand und besiegelte Beerdigungen. Die bekannteste eingestellte Planung ist die „DüBoDo“ („Düsseldorf – Bochum – Dortmund“), auch wenn es ernstzunehmende Menschen gibt, die sagen, die DüBoDo sei eine Untote. Komplett verschwunden ist sie aus dem „Bundesverkehrswegeplan“, das ist eine Absichtserklärung der Regierung, was man in den nächsten Jahren mal bauen könnte. Andererseits liegt zwischen den neueren Autobahnen im Südwesten Bochums und im Südosten Essens nur ein Loch von zwölf Kilometern Luftlinie: für Autobahnplaner eine Aufforderung, anzufangen.

Die heutige A 40 hat ihren Namen geklaut. A 40 war vorgesehen für die Lipperandstraße, eine Parallelstrecke nördlich der A 2 auf Höhe Dinslaken-Dorsten-Lünen. Sie kam nie zustande, doch wenn man von der 43 nach Marl-Sinsen hineinfährt, fährt man ein Stück über einen Torso. Das hätte sie werden sollen.

Einzige Ampel zwischen Amsterdam und Warschau

Ein anderer Torso liegt am Dortmunder Hafen und heißt OW3a („Ost-West 3a“), ein loses Ende der A 42, die ursprünglich nicht in Dortmund hatte enden sollen. Ebensowenig wie die Sauerlandlinie im Norden der Stadt. Und im Südosten fehlt von der Ursprungsplanung ein Stück der A 44, so dass, wer aus Kassel kommt, auf den innerstädtischen „Westfalendamm“ geführt wird. Wo, nach einem alten Bonmot, die einzige Ampel zwischen Amsterdam und Warschau steht.

Es sind aber sogar zwei.

Der Westfalendamm hätte längst eine unterirdische Parallelstrecke haben sollen, man ahnt es schon, eine Autobahn. Gerichte stoppten das, weil geplante Ausfahrten zu nah an die Wohnhäuser gerieten. Für den Tunnel hat heute niemand mehr Geld; und die, die Geld haben, sind nicht im Autobahn-Geschäft.

Vierspurige Luftschlösser

Sie finden das langsam ein bisschen anstrengend? Wir sind fast durch mit den vierspurigen Luftschlössern. Die Autobahn 31 aus Emden sollte nicht, wie sie es heute tut, in Bottrop enden, sondern sich über Oberhausen und Essen nach Süden durchschlagen. Umgekehrt, sollte die Autobahn 52 nicht im Essener Süden enden, sondern bis Gelsenkirchen reichen, wo das nördliche Teilstück seit Jahrzehnten wartet. Und dann gab es die Planung einer 41 (Herten-Gelsenkirchen-Bochum-Hattingen). Von der hat man schon so lange nichts gehört, dass niemand sich ihrer erinnert. Anders, als an die DüBoDo. Geschafft.

Nur nochmals ganz kurz nach Herne, zum klagefreien Spatenstich. Und, Herr Minister Groschek, fehlt Ihnen denn etwas wirklich im Autobahnnetz des Ruhrgebietes? „Manche Bypässe hat man in der Vergangenheit versäumt zu bauen. Heute geht das nicht mehr“, sagt er. „Und was wirklich fehlt, ist eine Diagonale zwischen Düsseldorf und Dortmund.“

>>>Autobahn-Splitter

Gewohntes Bild: Der tägliche Stau auf der A 40.
Gewohntes Bild: Der tägliche Stau auf der A 40. © imago/Jochen Tack

STAU >> Die meisten Ruhrgebietsautobahnen gibt es in Duisburg: sieben. Am dichtesten befahren werden sie in Oberhausen (A 3 bei Lirich: 137 000 Fahrzeuge am Tag). Am häufigsten in den Stau-Nachrichten ist Bochum. Aber da bauen sie ja jetzt . . .

KRIMI >> In der Mintarder Ruhrbrücke der A 52 halten Entführer 1994 ein Kind gefangen. Zwei Brüder hatten Manuela S. 1994 auf dem Schulweg abgefangen und sperrten sie im Tunnel unter der Fahrbahn ein. Elf Tage, ohne Toilette und Waschmöglichkeit, bis ein Bauleiter sie bei einer Brückeninspektion zufällig findet. Manuela ist die Tochter eines Hausmeisters – und weil der im Essener Villenviertel arbeitet, hielten die Entführer ihn für reich.

IN KÜRZE >> Die kürzeste Autobahn im Ruhrgebiet ist die A 516, sie führt vom mittleren Norden Oberhausens in den nördlichen Norden Oberhausens. Man könnte sie in einer Stunde abwandern, die fünf Kilometer. Wenn die ganzen Autos nicht wären.

ZU FUSS >> Die A 40 hingegen konnte man für einen Tag zu Fuß ablaufen – auf einer Strecke von 60 Kilometern. Am 18. Juli 2010 wurde beim „Still-Leben“ zum Kulturhauptstadtjahr Ruhr 2010 die Hauptschlagader des Revier-Verkehrs gesperrt. Viele schwärmen bis heute, eine Wiederholung wird’s nicht geben.