Essen. Es gibt nicht mehr die Familie, sondern viele verschiedene Formen, miteinander zu leben. Fest steht nur: Jeder Mensch hat eine Familie.
Sebastian hat keine Kinder. „Der Wunsch nach einem Kind war bei mir nie so groß“, sagt der 45-Jährige. Doch seine Partnerin Corinna, mit der er nicht verheiratet ist, hat eine Tochter aus der ersten Ehe. Sind sie eine Familie?
Singles und Alleinerziehende, Patchwork- und Regenbogenfamilien – die Art und Weise, wie wir heute zusammenleben, ist sehr vielfältig. Trotzdem halten viele an dem Ideal der konventionellen Kleinfamilie fest: Vater, Mutter, Kind. Mehr als jedes vierte Kind in Deutschland wächst jedoch nicht mehr in dieser Konstellation auf. Was verstehen wir daher heute unter „Familie“?
Die Vorstellung von der bürgerlichen Kleinfamilie mit dem Mann als Ernährer und der Frau als Hausfrau und Erzieherin der Kinder kommt aus den 50er- und 60er-Jahren. „Das war eine historisch einmalige Zeit, wo die Mehrheit verheiratet war und sehr viele Kinder geboren wurden“, betont Anja Steinbach, Familiensoziologin an der Uni Duisburg-Essen. Trotzdem habe es auch zu der Zeit und erst recht davor bereits andere familiäre Lebensformen gegeben. Alleinerziehende, weil der Vater im Krieg gefallen war, Stieffamilien, weil die leibliche Mutter im Kindbett gestorben ist. „Die Menschen mussten auch früher schon Kinder alleine großziehen oder sich einen neuen Partner suchen. Der Unterschied ist, dass sie es heute freiwillig tun.“ Es bedarf keines Schicksalsschlags mehr, damit Menschen eine andere Lebensform wählen. Für Mann und Frau gibt es heute kein moralisches Muss mehr, zusammen zu bleiben, bis dass der Tod sie scheidet.
Kinder müssen da sein, das ist das einzige Merkmal
Corinna und ihr Ex-Mann Frank teilen sich das Sorgerecht. Die gemeinsame Tochter lebt zwar meist bei der Mutter, aber die Feiertage verbringen sie zusammen. Bald werden Ostereier in Papas Garten gesucht. Sind sie eine Familie?
„Familie bedeutet – wissenschaftlich gesehen –, dass Kinder da sind“, so die Soziologie-Professorin Steinbach. „Andere Definitionskriterien wie: Das Paar muss verheiratet sein, das Paar muss heterosexuell sein, alle Mitglieder müssen in einem Haushalt leben, spielen heute keine Rolle mehr. Kinder müssen da sein, das ist das einzige Merkmal, das geblieben ist.“ Laut dem „Deutschen Kinder- und Jugend-Monitor 2017“ kommen mittlerweile 35 Prozent aller Kinder in Deutschland in nicht-ehelichen Gemeinschaften zur Welt. 2,3 Millionen der Unter-18-Jährigen leben bei einem alleinerziehenden Elternteil, überwiegend bei der Mutter.
Zwei Extreme: Bilderbuch- und Problemfamilien
„Alles Familie“ heißt ein Sachbuch von Alexandra Maxeiner und Anke Kuhl, das mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Dort werden Kinder gezeigt, deren Eltern sich getrennt haben, die nun aber mit Stiefgeschwistern in einer Patchworkfamilie leben. Oder Mädchen und Jungen, die bei lesbischen Müttern oder schwulen Vätern in einer Regenbogenfamilie leben. Oder Kinder, die bei ihren Großeltern aufwachsen. „Uns war aufgefallen, dass es in der Kindermedienwelt entweder die Bilderbuchfamilie mit Vater, Mutter, einem Kind oder zwei Kindern gibt oder die ,Problemfamilien’“, sagt die Illustratorin Anke Kuhl. „Da gibt es keinen selbstverständlichen Umgang mit der Familienvielfalt.“ Scheidungskinder seien in Büchern immer gleich Problemfälle. Wenn sie sich jedoch in ihrer Patchwork-Familie wohl fühlen, würden sie sich in den meisten Büchern gar nicht wiederfinden. „Wir wollten die ganze Vielfalt in ihrer Buntheit abbilden, ohne sie zu bewerten.“
Herausforderung für Oma und Opa
Franks Mutter war so glücklich, als sie Oma wurde. Nun hat sich ihr Sohn scheiden lassen. Das Verhältnis zur Schwiegertochter war schon früher angespannt, nun sieht sie ihr Enkelkind immer seltener. Sind sie eine Familie?
Die Vielfalt bringt neue Herausforderungen mit sich. „Was macht das zum Beispiel mit der erweiterten Familie, wenn Eltern sich trennen?“, so die Soziologin Steinbach. Da breche oft der Kontakt zu den Enkelkindern ab, wenn etwa der Sohn auszieht und das Enkelkind bei der Mutter bleibt. „Mittlerweile gibt es Großeltern-Bewegungen, die erklären, dass sie ja auch ein Recht haben, ihre Enkelkinder zu sehen, wenn sich Eltern trennen.“
Gleichberechtigte Elternteile
Gleichzeitig seien Großeltern heute oft wichtige Menschen, damit eine Kleinfamilie mit gleichberechtigt arbeitenden Elternteilen überhaupt funktioniert. „Untersuchungen zeigen, dass Kinder vermehrt geboren werden, wenn Großeltern in der Nähe sind, die Betreuungsleistungen übernehmen können“, sagt Steinbach. Außerdem sei die Verbindung zwischen den Generationen, also zwischen Eltern und erwachsenen Kindern und Enkelkindern heute oft sehr intensiv. Zumal die Familien kleiner geworden sind, es somit weniger Menschen einer Generation gibt, weniger Geschwister, weniger Tanten und Onkel, weniger Cousins und Cousinen. Auch für viele Singles bleibt die Herkunftsfamilie oft sehr wichtig.
Für junge Menschen sei die Kleinfamilie, so zeigen Befragungen, immer noch erstrebenswert, sagt Steinbach. „Aber viele schaffen es nicht, diesen Wunsch umzusetzen.“ Weil sie sich zu lange auf die Karriere konzentrieren, weil sie nicht wissen, wie sie Beruf und Familie vereinbaren sollen, weil der richtige Partner, die richtige Partnerin fehlt . . .
Zwischen „Pank“ und „Punk“
Svenja hat keine eigenen Kinder. Trotzdem spielen Kinder in ihrem Leben eine große Rolle: die Söhne ihres Bruders. Wenn die Kinder ihre Tante sehen, laufen sie ihr jubelnd entgegen. Sind sie eine Familie?
„Pank“ nennt man heute kinderlose Frauen wie Svenja, die sich als „Supertanten“ einbringen – „professional, aunt, no kids“. Oft sind sie berufstätig, haben sich vielleicht bewusst gegen eigene Kinder entschieden, möchten aber nicht ganz darauf verzichten. Der Begriff kommt aus dem Marketing. Da diese Tanten meist kaufkräftig sind und gerne Nichten und Neffen Geschenke machen. Aber auch Soziologen erkennen dieses gesellschaftliche Phänomen, das nicht rein weiblich ist: Der Onkel wird zum „Punk“.
Patin vom Kind der Freundin
Svenja hat doch ein eigenes Kind: ein Patenkind. Die kleine Mia ist die Tochter ihrer besten Freundin. Die Freundschaft zu Mias Mutter ist heute noch enger als früher. Sie besprechen alles, geben sich gegenseitig Halt. Sind sie eine Familie?
Die Soziologin Steinbach bezweifelt, dass freundschaftliche Verbindungen so stark sind wie die zu Blutsverwandten. Kaum ein Mensch würde den Kontakt zu seiner Mutter abbrechen, man sei zudem vom Gesetz her miteinander verbunden. „Ich kann schließlich nicht einklagen, dass meine Freundin meine Ausbildung bezahlt oder mein Pflegeheim.“ Anke Kuhl, die Illustratorin des Buches „Alles Familie“ sieht das anders: „Welchen Menschen man nahe steht, entscheidet ja nicht der leibliche Verwandtschaftsgrad oder was auf dem Papier steht.“
In der Psychologie gibt es mittlerweile Ansätze, die Familie neu zu definieren, indem auch die Menschen berücksichtigt werden, die für einen selbst und ganz subjektiv zur eigenen Familie zählen: die „wahrgenommene Familie“.
Hat Svenja, die Patentante von Mia und Tante der Söhne ihres Bruders nun eine Familie oder nicht? Die kleine Mia meint die Antwort zu kennen: „Eigentlich hast du sogar zwei Familien!“