Ruhrgebiet. Die großen Multiplex-Kinos haben mit Besucherschwund zu kämpfen. Ganz anders die Programmkinos in unserer Region, denen es meist sehr gut geht.
Im Filmforum in Duisburg herrscht an diesem Abend Hochbetrieb: Auf der Leinwand läuft das Drama „Manchester by the Sea“, jeder der purpurrot bezogenen Sessel ist besetzt, an den Wänden zeugt roter Vorhangstoff von der Plüschigkeit vergangener Tage, ohne in irgendeiner Weise muffig zu wirken. Schon der Aufgang mit seinem gewaltigen historischen Filmprojektor stimmt die Zuschauer ein. Das Programmkino am Dellplatz schreibt seine Erfolgsgeschichte fort. Mit 84 480 Besuchern verzeichnete man 2016 einen neuen Allzeit-Rekord. Ganz anders als die Multiplex-Kinos, die in 2016 mit einem Zuschauerrückgang von rund zwölf Prozent zu kämpfen hatten, geht des den Programmkinos im Revier gut.
„Entgegen der Branchenentwicklung haben wir 2016 zugelegt.“
Nicht alle Lichtspielhäuser sind mit ihren Zahlen so freigiebig wie die Duisburger. Der Trend ist jedoch klar: Ob in Bochum, Dortmund, Essen, Mülheim, Oberhausen oder Gelsenkirchen – die Zahl der Besucher machte im abgelaufenen Jahr einen Sprung nach oben. „Entgegen der allgemeinen Branchenentwicklung haben wir 2016 zugelegt“, sagt Stephan Zabka, Programmverantwortlicher der beiden Bochumer Programmkinos Casablanca und Metropolis exemplarisch. Umso bemerkenswerter sei dies, da es keinen absoluten Kassenschlager à la „Ziemlich beste Freunde gab“. Erfolgreichster Film war der für den Oscar nominierte Streifen „Toni Erdmann“.
Doch was sind die Gründe für den Erfolg? Für den Experten Zabka ist das Erlebnis „Kino“ ein entscheidender Aspekt. Kinos wie die Camera in Dortmund, das Astra & Luna in Essen oder das Casablanca stammen noch aus den 50ern. Am Interieur haben die Betreiber ganz bewusst wenig geändert. „Offene Kassen, historische Einrichtung, Mitarbeiter, die Fragen zu den Filmen beantworten können“, zählt Zabka Dinge auf, die seiner Meinung nach Teil eines schönen Kinoabends sein sollten. Gerade die Fachkompetenz der Mitarbeiter wissen viele der Besucher zu schätzen. „Die Leute gehen gerne in das kleine Kino um die Ecke und genießen die Atmosphäre. Es geht um das klassische Kinogefühl. Die Massenabfertigung in den großen Multiplexkinos leistet das nicht“, fügt Alexander Terzakis, Veranstaltungsleiter in der Dortmunder Schauburg an.
Dort hatten die Mitarbeiter Ende des letzten Jahres bereits beide Säle abgebaut und die Möbel herausgeschleppt. Trotz guter Resonanz wurde der Pachtvertrag erst in letzter Sekunde verlängert. „Das war eine Riesenerleichterung“, sagt Terzakis. Ein Saal mit 159 Plätzen wurde im Nu wieder aufgebaut. Der zweite Saal (109 Sitze) ging mit etwas Verzögerung wieder in Betrieb. Wäre es anders gekommen, hätte Deutschland nicht nur ein kleines Kino, sondern ein gewaltiges Stück Kinogeschichte verloren: Das 1912 an dieser Stelle eröffnete Lichtspielhaus ist nicht nur das älteste Dortmunds, sondern eines der ältesten Deutschlands. Man muss sich vorstellen: Dort ratterten schon die Filme über den Projektor, als die Zuschauer noch nicht einmal vom Tonfilm zu träumen wagten.
Keine Konkurrenz zwischen den einzelnen Häusern
Die größte Dichte an Programmkinos finden Cineansten in Essen: Vier Kinos betreiben die Essener Filmkunsttheater innerhalb der Stadtgrenzen, darunter das Eulenspiegel in Huttop mit seiner Ausstellung historischer Kameras und Projektoren oder die winzige Galerie Cinema mit ihren 45 Plätzen und einer recht kuscheligen Wohnzimmer-Atmosphäre. Hinzu kommt das Rio in Mülheim. „Auch bei uns ist die Zuschauerzahl gestiegen“, berichtet Leiterin Marianne Menze. Eine Konkurrenzsituation zwischen den einzelnen Häusern gebe es nicht, versichern die Macher unisono. „Es werden unglaublich viele Filme veröffentlicht. Viele laufen manchmal nur in einem Kino. Da kommen wir uns nicht in die Quere“, erzählt Gerlinde Veddeler-Johannsen, die seit 1983 für die Camera in Dortmund verantwortlich ist.
Einige Häuser kämpfen auch ums Überleben
Es gibt jedoch auch Programmkinos, die zu kämpfen haben. Meistens sind es die ganz kleinen Lichtspielhäuser. „Wir kämpfen ums Überleben“, sagt Nina Selig. Sie ist Geschäftsführerin und Programmverantwortliche im Endstation Kino in Bochum-Langendreer, einem Kino mit einem Saal, der 89 Besucher fasst. „Von den großen Arthouse-Hits profitieren wir nicht. Die bekommen wir erst drei Wochen nach den anderen Kinos“, erzählt Nina Selig. Dann sind die Vertragsbedingungen der Filmverleiher nicht mehr so streng. 12 000 bis 14 000 Zuschauer kommen für gewöhnlich im Jahresschnitt. Nina Selig: „Das reicht nicht, um den Betrieb zu finanzieren.“ Also ist man auf Prämien aus der Filmstiftung angewiesen, die viele kleine Kinos unterstützt. Von der Stadt kommt – anders als viele denken – keine finanzielle Unterstützung. An der Ausrichtung möchte Nina Selig trotzdem nichts ändern: „Uns ist der Schwerpunkt Filmbildung wichtig. Bei uns sehen die Menschen Filme, die sonst nirgendwo laufen würden.“
So wählen die Programmkinos ihre Filme aus
Auch die echten Kino-Experten können sich einmal irren: „Ich bin total überrascht, wie ,La La Land’ seit Beginn des Jahres durchgestartet ist. Da war ich zu Beginn sehr skeptisch und habe mich gefragt, ob ein Filmmusical mit diesem Thema in Deutschland überhaupt ankommt“, sagt Stephan Zabka, Programmverantwortlicher der Bochumer Kinos Metropolis und Casablanca. Direkt zum Jahresstart ließ der Gewinner der diesjährigen Golden Globes die Kinokassen klingeln und räumte nun sogar bei den Oscars ab. Gleichzeitig zeigt das Beispiel der US-Produktion: „Programmkino zu machen, heißt auch Risiken eingehen“, so Zabka.
Ob ein Film bei den Zuschauern ankommt, können die Macher naturgemäß im Vorfeld nicht wissen. „Kritiken, die Resonanz auf Filmfestivals und persönliche Eindrücke nach den Trailershows“, helfen Jörg Kluge, Theaterleiter des Oberhausener Kinos im Walzenlager bei der Auswahl.
Viele Filme, wenige Säle
Marianne Menze von den Essener Filmkunsttheatern berichtet von heißen Diskussionen, in denen jeder für die Filme kämpft, die ihm gut gefallen. Das Problem, vor dem die Verantwortlichen stehen: Jeden Donnerstag kommen 15 bis 25 neue Filme auf den Markt. „Wir können vier Säle bespielen, da sind wir natürlich limitiert“, setzt Stephan Zabka die Neustarts in ein Verhältnis zu seinen begrenzten Vorführ-Kapazitäten. In den meisten Programmkinos sind es dabei noch weniger Leinwände, die zur Verfügung stehen. Ein glückliches Händchen ist also gefragt. „Man muss den Spagat zwischen Mainstream und Special Interest finden“, sagt auch Alexander Terzakis von der Schauburg in Dortmund.
Sektmatinée mit anspruchsvollen Dokus
Beim Austüfteln der Spielpläne fließen die Erfahrungen der Verantwortlichen mit in die Entscheidung ein: Dramen, Komödien, Biopics, weniger Action, mehr europäische als amerikanische Filme wollen die Zuschauer in den Programmkinos sehen, fassen sie zusammen. „Leichtfüßige, flockige Filme gehen immer gut“, sagt Zabka. Und natürlich sind es besonders die preisgekrönten Filme wie aktuell „La La Land“, denen das Zuschauerinteresse zufliegt. 2016 spielte „The Revenant – Der Rückkehrer“ gute Ergebnisse ein, nachdem er zuvor dreimal mit dem Oscar ausgezeichnet wurde.
Das Casablanca hat mit seiner Sektmatinée ein eigenes Format ins Leben gerufen. Dabei werden am Wochenende zur Mittagszeit anspruchsvolle Dokumentationen gezeigt. Häufig sind die Vorstellungen so schnell ausverkauft, dass Zusatztermine geschaffen werden müssen. „Dokumentationen werden super angenommen – vor allem dann, wenn sie sich um Umwelt, Esoterisches oder bildende Kunst drehen“, bestätigt auch Marianne Menze. Nina Selig, Geschäftsführerin des Bochumer Endstation Kino, nennt ein Beispiel: „Zuletzt lief bei uns eine Yoga-Doku, für die Leute aus der ganzen Region gekommen sind.“
Auch lokale Themen sind oft ausverkauft
Ein Pfund, mit dem die Programmkinos wuchern können, sind auch Filme mit Lokalkolorit. 2014 war der Dokumentarfilm „Göttliche Lage“ über den Dortmunder Phönixsee noch eine Überraschung. 2016 folgte dann Adolf Winkelmanns Ruhrpott-Film „Junges Licht“. Der Regisseur tourte mit seinem Streifen durch die Programmkinos. Die Zuschauer konnten ihn zu dem Film befragen, nicht nur die Premieren waren ausverkauft. „Der Kontakt zu den Filmemachern ist für die Zuschauer extrem spannend. Plötzlich haben sie ein Gesicht und Geschichten zu dem Film“, erklärt Zabka.
Die Programmkinos genießen mitunter aber auch das Privileg, sich sympathische Schrulligkeiten leisten zu können. So läuft in der kleinen Essener Galerie Cinema seit über 41 Jahren der Klassiker „Harold and Maude“. Für Marianne Menze geht es dabei gar nicht mehr um den Zuschauerzuspruch: „Manchmal sind nur fünf Zuschauer da, manchmal 25. Hier ist es doch einfach die Geschichte, die zählt.“
Ein Versuch, im Multiplexkino ein Getränk zu bestellen
Sonntag, 17 Uhr, im Multiplexkino. Ich bin früh da, so meine ich, denn der Film fängt ja erst in einer halben Stunde an. Mein Ticket halte ich schnell in der Hand. 8,90 Euro sollte es kosten. Laut Kassiererin sind in dem kleinen Saal aber nur die ersten, wenigen Reihen für den Normalpreis zu haben. Also zahle ich noch mal 1,50 Euro für Loge. Man will ja keinen steifen Nacken bekommen.
„Sparmenüs“ mit einem Liter Cola
Die lange Schlange bildet sich erst hinter der Kasse: Die Menschen stehen in Reihen vor der Theke. Ich nehme die Rolltreppe. Aber auch in der oberen Etage ist das Stimmenwirrwarr vor der Theke so laut wie auf einem überfüllten Bahnsteig. So viele Besucher, als ob es etwas umsonst gäbe. Dabei können sie nur sparen – mit den „Sparmenüs“. Erstaunlich, für was heute das Wort „Menü“ herhalten muss, denke ich beim Blick auf die Leuchttafel. Statt Suppe, Hauptgang, Dessert heißt das hier etwa: 1 große Portion Nachos, 1 großer Softdrink, 1 Liter: 10,10 Euro. Und damit spart man?
Ich bestelle: „Einen schwarzen Tee, bitte!“ Der junge Mann hinter der Theke schaut mich an, als ob ich Suppe, Hauptgang, Dessert geordert hätte, dabei steht „Tee“ auf der Leuchttafel: 3,10 Euro – für einen kleinen Becher. (Ein großer wird auch gar nicht angeboten.) Die Servicekraft dreht sich um, fängt leicht panisch an, einen Teebeutel zu suchen. Das dauert, dabei sind die Regale gut sichtbar – und leer. „Ein Milchkaffee tut es auch“, rufe ich freundlich, um den verzweifelten Mann zu erlösen. Er schaut mich an und sein Blick scheint wieder zu sagen: Suppe, Hauptgang, Dessert?
Vom Tee über den Kaffee zur Cola gekommen
Nein, einfach: Kaffee mit Milch. Bitte! Das Getränk kostet: 3,30 Euro – für einen großen Becher. (Ein kleiner wird auch gar nicht angeboten.) Der junge Mann drückt hektisch auf den Knöpfen des Kaffeeautomaten. Das Gerät schweigt, die Schlange wird länger. Was soll’s, Hauptsache Koffein: „Eine Cola!“ Der Mann stellt mit Schwung einen Pappbecher auf die Theke. Einen Becher? Das Wort Eimer trifft es besser. Das muss die Jumbo-Variante sein: 1,5 Liter. Bevor er jedoch den Zapfhahn bedient, kann ich ihn stoppen: „Gibt es das in klein?“
Statt eines heißen Tees halte ich schließlich einen mit Eiswürfeln gefüllten Riesen-Becher in der Hand. 4,40 Euro für 0,75 Liter – so viel steckt in einer normalen Wasserflasche. Wollte ich es kleiner als „klein“, bliebe mir noch die Kinderportion (4 €): ein halber Liter!
Eine hübsche Portion Zucker
Laut Nährwert-Tabelle des Kinobetreibers im Internet sind über 10 Prozent des Inhalts Zucker. Dazu noch Koffein. Da dürfte ein Kind auch ohne spannenden Film Herzrasen bekommen. So kann man fast froh sein, dass die Cola wie gestreckt schmeckt.
Am Ende betrete ich den Saal in dem Moment, als die Werbung beginnt. Bis der Film anfängt, sind die Eiswürfel zur Hälfte geschmolzen. Insgesamt habe ich für den Besuch plus Getränk 14,80 Euro bezahlt – ohne Popcorn. Falls ich dieses Kino noch mal besuchen sollte, werde ich zur Schmugglerin: Nie wieder ohne Thermoskanne!