Rhein und Ruhr. Vor 1700 Jahren lebte der germanische Stamm der Franken an der Ruhrmündung. Dann schlug er gegen die Römer los und unterwarf halb Europa.

Im Erdgeschoss des Museums Burg Linn in Krefeld steht eine beeindruckende Modelllandschaft. In der Mitte fließt der blaue, mäandernde Rhein mit Inseln und Armen. Linksrheinisch erstrecken sich im Spielzeug-Maßstab weite Felder um weiß-rote Gebäudekomplexe, augenscheinlich ein römisches Kastell samt Siedlung. Rechts vom Fluss haben die Bastler viele kleine grüne Kugeln aufgeklebt. So sehen Bäume aus. Der Eindruck, den die Szene rüberbringt: Linksrheinisch ist alles kultiviert, zivilisiert, geordnet, ja: wohlhabend. Rechtsrheinisch liegt undurchdringlicher Urwald, ein Terrain der wilden Tiere und Barbaren.

Die Menschenkinder des dritten Jahrtausends kennen die Gegend. Links, nahe dem Kastell, ist heute der Krefelder Rheinhafen gelegen, der viertgrößte in Nordrhein-Westfalen. Rechts, tief im Barbaren-Teil des Modells, wohnen aktuell die Duisburger des Stadtteils Hüttenheim und die Angermunder. Sie beschweren sich nicht wie die Vorfahren es taten, wenn wieder mal die gefährlichen Bären im Vorgarten wühlten. Eher stören sie die lautstark startenden und landenden Boeings und Airbusse des Flughafens Düsseldorf.

Eroberer oder Flüchtlinge vor Gewalt, Klimawandel, Armut?

Wer waren die Ur-Ur-Mütter und -Väter der Duisburger und Angermunder, der Essener und Castroper, die in dieser Landschaft vor 1700 Jahren lebten? Was wissen wir von ihrem Alltag und ihren Leistungen, ihrer politischen und wirtschaftlichen Situation? Sind nur Rheinländer und „Ruhris“ ihre Nachkommen? Oder können noch ganz andere Nationen auf sie verweisen, weil die Ahnen der Einwohner des heutigen Nordrhein-Westfalen zu den ersten und wichtigsten Völkerwanderern gehörten? Als Eroberer. Aber auch als Flüchtlinge vor Gewalt, Klimawandel und Armut, so wie Syrer und Afrikaner der Jetztzeit.

 Dr. Christoph Reichmann, Leiter des Museums Burg Linn neben dem Modell eines germanischen Hauses aus Gellep gebaut in der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts.
Dr. Christoph Reichmann, Leiter des Museums Burg Linn neben dem Modell eines germanischen Hauses aus Gellep gebaut in der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts. © Kai Kitschenberg

Ein bisschen geschummelt habe man bei der Modellanlage, sagt der Historiker Christoph Reichmann. Einfach, um den vielen Besucher-Schulklassen prägnanter die Welt des Jahres 300 nach Christus zu vermitteln. Ein paar kleine grüne Kugeln sind zu viel da. Unmittelbar am Strom war damals auch rechtsrheinisch der Wald nicht mehr so dicht. Es war öffentlicher Raum. Römer und Germanen handelten dort mit Bären- und Hirschfleisch, mit Pelzen, Salz, eingepökelten Pflanzen und blonden Sklavinnen und Sklaven. Sie schlossen Verträge, lebten mit- und liebten sich untereinander.

Aus manchen fränkischen Kriegern wurden römische Feldherrn oder deren Berater. Man lag kulturell meilenweit auseinander, schimpfte, wie es der Römer Sidonius Appolinaris tat, per Reim darüber, dass er Tischgenosse „des langhaarigen Volkes“ war, das sich „mit ranziger Butter den Kopf salbt“ und am Morgen schon zehn Portionen Knoblauch verzehrt. Man war Freund und Feind, Gegner und Geschäftspartner – alles gleichzeitig. Zwischendurch brachte man sich gegenseitig um.

Ei Hot Spot der Spätantike lag an Rhein und Ruhr

Reichmann, bis 2016 Leiter des Linner Museums, weiß, dass dies hier ein Hot Spot in der Welt der Spätantike war. Schon seit der Zeitenwende des Jahres Null endete mitten im Strom das riesige römische Imperium. Der Rhein zwischen Köln, Duisburg und Nimwegen? Eine breite, markante Grenze. Nördlich und östlich davon, bis weit hinein in die Regionen des heutigen Skandinaviens und nach Russland, erstreckte sich das Gebiet der den Römern fremden Stämme. Das war nicht nur, aber oft unbekanntes Land: Terra incognita.

Der goldene Helm eines fränkischen Fürsten, gefunden in Gellep.
Der goldene Helm eines fränkischen Fürsten, gefunden in Gellep. © Kai Kitschenberg

Bonn und Köln, Neuss und Gellep, Xanten und Nimwegen waren die linksrheinischen römischen Grenzfestungen. Der spätrömische Straßenatlas Tabula Peutingeriana verortet als unmittelbare Anlieger „rechts des Niederrheins“ die Brukterer und Chattuarier, nördlich die Sugambrer, weiter östlich die Marser. Ihre Siedlungen, lebhafte Handelsplätze darunter, waren Serm und Essen-Hinsel, Castrop-Rauxel in Höhe der Zeche Erin, Westik bei Hamm und auch Soest. Die Stämme, die hier siedelten, wurden später unter dem Begriff Franken bekannt und gefürchtet. Woher sie ursprünglich kamen? Von der Nordsee wohl. Viel liegt im Dunkel der Geschichte. Die Jahre von 300 bis 500 nach der Geburt Christi aber wurden ihre große Zeit, die der Völkerwanderung. Als sie einmal ins Rollen gekommen war, blieb am Ende nichts mehr übrig von der Macht der Cäsaren.

Der Alltag am Limes, der Grenze, ist über weite Strecken geprägt gewesen vom Handel und von den Verkehrswegen. Daran sollte jeder einen Gedanken verschwenden, der gerade auf der A40 im Stau steht. So war für beide Seiten, für Rom wie für die Franken, der Ort Dispargum, Duisburg, ein wichtiger Platz und später, Anfang des 5. Jahrhunderts, sogar ein erster germanischer Königssitz. Hier lag, sagt Reichmann, der „Brückenkopf des Hellwegs“, der großen Handelsstraße nach Osten, die sich quasi als Vorgänger der Revierautobahn nördlich der Rora, der späteren Ruhr, entlang zog. Unter starken Kaisern wie Konstantin und Diokletian, als Segler aus fernen Ländern wie Syrien am Rheinufer entluden, blühte der wirtschaftliche Austausch zwischen Rom und der Region des heutigen Ruhrgebiets. Über die Geldwirtschaft war es angeschlossen an die römische Provinz.

Eine Schlacht im Jahr 259 nach Christus

Es ist 1981. Reichmanns Vorgängerin Renate Pirling steht im südöstlichen Krefelder Stadtteil Gellep, dem einstigen Geluba, vor den Gräbern eines kleinen, antiken Schlachtfelds. Merkwürdig verrenkt, auf der Seite oder dem Bauch, liegen in wenigen Meter Tiefe die Überreste von 124 Menschen und 23 Pferden in wilden Haufen übereinander. Sie sind mit Kalk bestreut. Irgendjemand hat Roms Soldaten und mindestens elf Zivilisten hastig bestattet. Am Skelett einer jungen Frau finden die Gräber einen Geldbeutel mit vier Silbermünzen. Eine davon trägt das Porträt des Kaisers Valerianus. So ist das Jahr der militärischen Auseinandersetzung zu bestimmen: 259 nach Christus, eines der entscheidenderen Jahre in der regionalen Geschichtsschreibung.

Was ist passiert? Reichmann, Autor von „Römer und Franken am Niederrhein“ (Nünnerich-Asmus, 2014), wagt sich an eine Analyse. Der Wissenschaftler geht davon aus, dass angreifende Franken, vielleicht 500, vom gegenüberliegenden Duisburger Ufer kommend den Rhein überquerten, „um eine römische Villa zu überfallen“. Eine Kohorte zu Fuß und römische Reiterei seien ihnen in die Quere gekommen. Um Eindringlinge zu vertreiben? Um die Bewohner eines Bauernhofes in Sicherheit zu bringen? Zwischen den Skeletten fanden die Archäologen Handfesseln, wie sie zur Gefangennahme der Feinde des Imperiums genutzt wurden. Doch wenn Ereignisse siebzehn Jahrhunderte zurück liegen, müssen die Abläufe im Detail oft im Ungefähren bleiben.

Europa fiel den Germanen in die Hände

Sicher ist: Die rechtsrheinischen Germanenstämme begannen, sich mit dem Frankeneinfall von 259 auf die Siegerseite zu schlagen. Viele Überfälle, Brandschatzungen der Grenzanlagen um 280 und noch mehr Tote später eroberten ihre Enkel und Urenkel die Colonia Agrippina, Köln also. Sie zogen unter Chlodwig westwärts durch Belgien und nach Lutetia, heute Paris. Sie nahmen sich Galliens Kernland bis an den Atlantik und dehnten ihr Frankenreich bis an die Pyrenäen aus. Es waren historische Bewegungen mit großen zeitlichen Unterbrechungen, Rückschlägen, mit friedlichen und dann eher kriegerischen Phasen. Im Jahr 800 aber ließ sich Karl der Große zum deutschen Kaiser krönen. Das spätere Heilige Römische Reich Deutscher Nation? Es hat Wurzeln im Ruhrgebiet.

Was hat die Auseinandersetzungen befeuert? Wo lagen die Motive der Germanen, sich nach Jahrhunderten des Zusammenlebens mit den Römern anzulegen und nach Westen aufzubrechen?

Brutale Behandlung der Germanen durch die Römer

Heimatvereine widmen sich gerne der Historie. „Wir in Mintard e.V.“ tut das zum Beispiel mit einer launigen Internet-Darstellung des lokalen Lebens der Römerzeit. Der User erfährt, dass Willkür und Überheblichkeit der Besatzer auf juristischem und fiskalischem Gebiet schon um die Zeit der Geburt Christi die späteren Konflikte angelegt haben, dass sie mit zum Aufstand des Arminius und der siegreichen Varusschlacht führten. Da war die brutale Behandlung durch die südeuropäischen Eroberer und das römische Rechtssystem mit Folter und häufig verhängter Todesstrafe. Und vielleicht mehr noch: „Die Römer beanspruchten ihr Recht, die eroberten Provinzen auszubeuten und mit immer neu erfundenen Steuern die Bevölkerung der Germanen verarmen zu lassen“, erinnern die Mintarder von heute an die Gier der Römer.

Foto-Reproduktion eines Totenfeldes der von den Franken erschlagenen Römer und Einheimischen.
Foto-Reproduktion eines Totenfeldes der von den Franken erschlagenen Römer und Einheimischen. © Kai Kitschenberg

Grundsteuer, Gewerbesteuer, Vermögenssteuer, Kopfsteuer. Viele Abgaben sind den nicht ans Steuerzahlen gewohnten Einwohnern von Mayentraede, dem heutigen Mülheimer Vorort, auferlegt worden. Wer nicht zahlen wollte oder nicht konnte, dem rückten die Finanzbehörden des Imperiums mit Sitz in Trier auf die Pelle. Schnell mal konfiszierten sie Schafe und Ziegen. Aber „Wir in Mintard“ hat auch Lob übrig und nennt die zweite Seite der Medaille: „Die Römer brachten einen hohen Lebensstandard, ihre Kultur und ihre Kunst mit über den Rhein. Sie bauten Straßen und Häuser nach ausgezeichneten Plänen und führten das Zahlungssystem mit Münzen ein.“

Missernten wegen des Klimawandels

Für die Zuspitzungen der Lage ab dem 3. Jahrhundert und den Aufbruch sieht der Historiker Reichmann die Gründe in noch anderen Entwicklungen. In Europa änderte sich das Klima. „Es wurde kälter. Missernten waren die Folge. Im römischen Reich sah man die bessere Zukunft für sein Leben“. Man könne, sagt er, „durchaus von einer Armutswanderung sprechen. Das ist eine gewisse Parallele zu heute“. Wobei die innere Schwäche des römischen Reiches nachhalf – verursacht durch meist erfolglose Putsche vorher erfolgreicher Feldherrn gegen die Kaiser, durch Truppen-Abzüge aus den Grenzregionen, durch das Entstehen römischer Teilstaaten mit eigenen Herrschern, die mal mit den Barbaren kooperierten und sie ein anderes mal bekämpften. So viel Zerfall habe die Germanen zur Konfrontation geradezu „eingeladen“.

Die Reproduktion einer römischen Bronzemünze aus der Zeit zwischen 348 und 350 im Museum Burg Linn in Krefeld.
Die Reproduktion einer römischen Bronzemünze aus der Zeit zwischen 348 und 350 im Museum Burg Linn in Krefeld. © Kai Kitschenberg

Die Aufarbeitung der Geschichte der Imperiums-Grenzen ist ein Welterbeprojekt. Die Fahndung nach Zeugnissen des Lebens in der Spätantike ist mühsam. Römische Schriften dienen dazu, auch die Berichte des Bischofs Gregor von Tours (538 bis 594), der zu seinen Lebzeiten die Geschichte der Franken aufgeschrieben hat. Vor allem aber Grabungs-Ergebnisse. Allein bei Gellep sind 6400 Gräber freigelegt. So fanden die Krefelder Forscher auf einer Münze einen Hinweis auf den Vertrag zwischen Kaiser Constans und den Franken, bei dem es mutmaßlich um Ansiedlungen auf römischem Reichsgebiet ging.

Hier und da, wenn längs des Hellwegs wieder einmal ein germanisches Grab ausgehoben werden kann, bestaunen die Archäologen mit einem wissenden Lächeln die üblichen Beigaben der Region für die große Reise ins Jenseits. Es sind nicht nur Schwerter und Schmuck. Es sind bei den reicheren Toten große Eimer, bei den weniger Reichen Gläser. Biergefäße. Sie dienen dem gesunden Proviant. „Sie hatten ein Faible für Bier“, sagt der Krefelder Historiker Christoph Reichmann. War sicher noch kein richtiges Pilsken. Aber: Willkommen im Ruhrgebiet.

Der wahre Siegfried

Es wuchs in Niederlanden eines edlen Königs Kind/ sein Vater hieß Siegmund, seine Mutter Siegelind / in einer reichen Veste, ferne wohlbekannt, /tief unten an dem Rheine, sie war Burg Santen genannt

Der Siegfried in Bayreuth: Stets wird der Held in der Wagner-Oper anders dargestellt, hier 2006 von Stephen Gould.
Der Siegfried in Bayreuth: Stets wird der Held in der Wagner-Oper anders dargestellt, hier 2006 von Stephen Gould. © dpa Picture-Alliance / Marcus Führer

Es sind von Karl Simrock 1827 ins Neuhochdeutsche übersetzte Verse aus dem alten Nibelungenlied. Das Kind ist hier Siegfried, der später Kriemhild begehren, von Hagen von Tronje ermorden und wiederum von Kriemhild gerächt werden wird. Siegfried ist der Held der mit dem Ende der Burgunder endenden tragisch verlaufenden Sage. Mit Santen, seinem Geburtsort, ist wohl die Königsburg Xanten am Niederrhein gemeint.

Das Nibelungenlied ist im historischen Gedächtnis der Deutschen verankert und wurde auch von den Nationalsozialisten für Propagandazwecke missbraucht. Es ist Ende des 12. Jahrhunderts entstanden, mehr als ein halbes Jahrtausend nach dem Ende der Völkerwanderung. Aber es bezieht sich vielfach auf die umwälzenden Geschehnisse der Zeit bis 500 in Europa wie dem Einfall der Hunnen, dem Untergang der Burgunder und den Aufstieg der Ostgoten. Gab es Siegfried überhaupt? War er eine historische, mystifizierte Person – oder eher eine Mischung aus mehreren herausragenden Persönlichkeiten der Zeitgeschichte? Ist etwas an seiner rheinischen Herkunft dran?

Siegfried oder Sigurd? Ein nordeuropäischer Mythos

Solche Fragen haben sich Historiker über viele Jahrhunderte gestellt. Viel deutet darauf hin, dass die unbekannten Autoren der Sage ihre zentrale Figur und auch den Plot der Erzählungen vom Drachentöter und den im Rhein versenkten Schatz aus einem Mix von Menschen und überlieferten Ereignissen gewonnen haben. Die Siegfried-Geschichte taucht auch in der nordeuropäischen Sagenwelt auf. Hier heißt der Held Sigurd. Doch es fehlen Bezüge zu Xanten.

Nicht ganz von der Hand zu weisen sind nach Meinung vieler Wissenschaftler die Ähnlichkeiten, die Siegfried mit dem Germanenführer Arminius habe, der 9 nach Christus den römischen Feldherrn Varus bei Osnabrück schlug.

Flucht oder Völkerwanderung?

65 Millionen Menschen waren 2016 weltweit auf der Flucht. Es ist die höchste Zahl in diesem Zusammenhang, die je vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen ermittelt wurde. Kriege und wirtschaftliche Not sind die Hauptursachen der Bewegungen.

Allein die Konflikte in Syrien und im Irak machen bisher zehn Millionen Menschen heimatlos. Eine Million davon ist nach Europa gezogen, vor allem nach Deutschland. Der größte Teil aber verharrt in den Nachbarländern der Nahost-Region wie Libanon und der Türkei, nur notdürftig versorgt von der UNO.

In Afrika,wo 1,2 Milliarden Menschen leben und sich die Bevölkerung in den nächsten 20 Jahren verdoppeln könnte, baut sich die nächste Fluchtbewegung auf. Kriege, Klimaveränderungen und Wassermangel sind der Ursachen-Mix. 5,5 Millionen Afrikaner leben derzeit in Lagern. Vor allem junge Menschen sind bereit, nach Europa aufzubrechen.

Bahnt sich eine neue Völkerwanderung an wie es sie im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung gab? Könnte damit ein Zusammenbruch der staatlichen und politischen Ordnung bei uns verbunden sein, so wie es dem römischen Imperium passiert ist? Was ist vergleichbar – und was ist absurd an solchen Vergleichen?

Wie beginnt der historische Umbruch?

Vorstöße wie der Frankeneinfall ins römische Reichsgebiet bei Krefeld im Jahr 259 nach Christus sind ein Vorspiel. Knapp einhundert Jahre später jagen Reiterhorden der Hunnen über die Grenzen des östlichen Europa und treiben die dort lebenden überraschten Germanenstämme vor sich her und nach Westen – in die Arme des mächtigen römischen Reiches, das sich über Europa, Asien und Afrika erstreckt. Kommen erst kleine Familienverbände an, folgen bald große Goten-Gruppen. 376 überqueren Zehntausende die Donau. Roms Kaiser hatte signalisiert, dass dies möglich sei. Um 400 setzen sich die Vandalen aus den Karpaten in Bewegung.

Wo liegen die Ursachen?

Von einem bösartigen, geplanten Überfall der Ost-Europäer kann nach heutigen Erkenntnissen keine Rede sein. Eher sind die Flüchtlinge getrieben von Not und Angst. Obwohl sie sich in die von ihnen bewunderte römische Gesellschaft integrieren wollen, bricht die Sympathie der Zuwanderer angesichts mangelnder Versorgung und auch nicht eingehaltener Versprechen der Römer mit der Zeit zusammen. Es kommt in den Provinzen zu Konflikten der Volksgruppen, die sich in gewalttätige Aggressionen und schließlich Eroberungszügen umwandeln.

Zerbricht daran das römische Reich?

Roms Macht überdauerte Jahrhunderte, auch dank militärisch überlegener Taktiken wie der Schildkröten-Formation.
Roms Macht überdauerte Jahrhunderte, auch dank militärisch überlegener Taktiken wie der Schildkröten-Formation. © dpa Picture-Alliance / Carmen Jaspersen

Entscheidend ist, dass es der Herausforderung nicht gewachsen ist. Nach Jahrhunderten der Vorherrschaft im Mittelmeerraum und bis nach Britannien sind die Grenzen längst überdehnt. Sie sind durch eigene Kräfte nicht mehr kontrollierbar. Gerade die Lage am Rhein zeigt dies. Bei der Kontrolle sollen Truppen aus den Reihen der Barbaren helfen, aber diese sind nicht immer zuverlässig. Innere Spannungen und Rivalitäten in Rom verhindern tatkräftige Entschlüsse, um die Gefahr abzuwehren. Hinzu kommt: Längst ist auch das Reich zweigeteilt – in ein besser gerüstetes Ost-Rom, das von Konstantinopel geführt wird, und ein geschwächtes West-Rom, in dem die Kaiser zwischen ihren Sitzen umherziehen und dessen Kaisertum 480 n. Chr. zusammenbricht. In der Stadt Rom haben sich die Herrscher kaum noch aufgehalten. Zweimal im Laufe von dreihundert Jahren wird Rom von den Germanen eingenommen. Konstantinopel nie.

Was ist vom römischen Imperium übrig geblieben?

Erst gegen 800, als sich Karl der Große in seinem Frankenreich zum Kaiser krönen ließ, stabilisierte sich die Lage in Europa wieder. Tatsächlich hat aber sehr viel Substanz des alten römischen Weltreiches überlebt. Überraschend: Die römisch-katholische Religion gehört dazu.

Gibt es in der Geschichte der Völkerwanderung Geheimnisse?

Spannend ist die Geschichte der „dark ages“ in Britannien. Nach der römischen Herrschaft im Süden bis zum Hadrians-Wall, die um das Jahr 400 offenbar ohne kriegerische Ereignisse endete, fehlen über einen Zeitraum von zweihundert Jahren viele Informationen über die weitere Entwicklung. Teile römischer Strukturen haben sich erhalten. Wahrscheinlich spielen da die Völker der Angeln aus Schleswig-Holstein und der Sachsen von der friesischen Küste eine Rolle, die die Herrschaft über die Insel übernehmen werden.

Ist unsere Lage heute mit der Roms damals zu vergleichen?

Nur wenig. Zwar hat es laut Grabinschriften in Rom Debatten über die „Integration“ der Ankömmlinge gegeben: Wie sollen wir sie nennen? Etwa „gotisch geborener Römer“? Welche Rechte erhalten sie? Die Flüchtlingsbewegungen der Neuzeit – von den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu den „Boat People“ aus Vietnam und jetzt den Zuwanderern aus Syrien oder Afrika – basieren auf der Fluchtentscheidung von Individuen oder einzelner Familien. Anders als damals brechen nicht organisierte Gruppen auf. Experten zweifeln sogar am Begriff „Völkerwanderung“ für die damalige Entwicklung. In vielen Fällen handelte es sich um Militärgruppierungen nebst Familien, die auf der Suche nach Beute und Nahrung waren, nicht aber um ganze Völker.