Mülheim. . Vor der Diagnose „Down-Syndrom“ fürchten sich viele werdende Eltern. Aber wie fühlt es sich wirklich an,mit seinem behinderten Kind zu leben?

Kirsten muss zwei Karten ziehen. Lars lacht laut auf. Wollen wir doch mal sehen, wer die Runde gewinnt. Familie Obel sitzt am Küchentisch und spielt „Uno“. Die Jüngste, Maren, ist gerade nicht da. Aber Kirsten, Nils und natürlich Lars. Als Ulrike Obel mit dem heute 22-Jährigen schwanger war, sagte ihr der Arzt nach einer Blutuntersuchung: „Es kann sein, dass ihr Kind behindert zur Welt kommt.“ Zwei Wochen hatte sie noch Zeit, für weitere Untersuchungen, für eine Abtreibung. Es waren mit die schlimmsten zwei Wochen ihres Lebens.

„Könnte ich dieses Kind lieben?“ Ein behindertes Kind? Das war die eine Frage, die sie in dieser Zeit quälte.

Die Mutter entschied sich für ihren Sohn. „Ich kriege ihn so wie er ist!“ Heute sagt die 57-Jährige: „Ich habe diese Entscheidung nie bereut.“ Die Frage von einst ist heute keine mehr. Wie sehr man einen Menschen mit Down-Syndrom lieben kann, zeigt auch die „Große“. Kirsten, die 25-jährige Lehramtsstudentin, kann so wütend werden, wenn andere Menschen – wie neulich im Zoo – ihren Bruder so blöd angucken.

Die Blicke waren bei Lars anders

Wie entzückt die Gesichter der Menschen doch waren, als sie die blonden Locken der kleinen Kirsten sahen, erinnert sich die Mutter. Als Lars im Kinderstuhl saß, waren die Blicke anders . . .

Ulrike Obel malt das Leben mit einem „Downie“ nicht rosarot aus. „Die Aufgabe bringt einen an seine Grenzen“, gibt die Mülheimerin zu. Aber das Bild, das die Gesellschaft von einem Leben mit einem Down-Syndrom-Kind zeichne, sei einfach nicht wahr. Man sollte sich lieber eine eigene Meinung bilden und Familien wie die ihre besuchen: „Es ist nicht das Ende Deines Lebens!“

Ulrike Obel aus Mülheim mit ihren Kindern Lars (vorne l.), Kirsten (r.) und Nils. Die Jüngste, Maren, fehlte am Tag der Aufnahme.
Ulrike Obel aus Mülheim mit ihren Kindern Lars (vorne l.), Kirsten (r.) und Nils. Die Jüngste, Maren, fehlte am Tag der Aufnahme. © Fabian Strauch

Wenn sie erzählt, was besonders herausfordernd war, dann ist es selten Lars selbst, der ihr das Leben schwer gemacht hat. Es waren die Reaktionen der Menschen: „Wussten Sie denn vorher, dass er Down-Syndrom hat?“ Die Ratschläge, die oft gut gemeint, aber vor allem Schläge waren, wie die Empfehlung der Ärztin in der Klinik: „Manchmal hilft es, wenn man solche Kinder schön anzieht.“

Dann sagte die Ärztin, dass Lars mit zwei Jahren noch nicht laufen und auch nicht alleine essen wird. Prophezeiungen, die so nicht eintrafen. Zum Glück war auch sein Herz recht gesund. Lars ist heute sportlich. „Beim Rückenschwimmen hat er mich abgezogen“, erzählt Nils, der zwar mit 18 der kleine Bruder ist, aber zugleich schon immer der große war. Einmal hat Lars den ersten Platz bei einem Wettkampf verpasst, weil er kurz vorm Ziel abbrach, um lieber der Familie zuzujubeln.

Die Eltern sind mittlerweile getrennt. „Aber nicht wegen der Kinder“, betont Ulrike Obel, die heute mit einem neuen Lebensgefährten zusammenlebt. „Mama! Michael! Liebe!“, fasst Lars laut zusammen.

Zurzeit hat Lars Urlaub. Aber er arbeitet lieber. „Mähen! Ich! Alleine!“, ruft er stolz und zeigt dabei auf seine Brust. Bei den Fliedner-Werkstätten ist er beim Garten- und Landschaftsbau tätig. Nicht alles, was Lars sagt, ist für ungeübte Ohren gut zu verstehen. Dann übersetzt die Familie. „Wir hätten mit ihm vielleicht zur Logopädie gehen sollen“, sagt Ulrike Obel. Ähnlich wie andere Mütter, die sich fragen, ob sie ihr Kind genug fördern. Und dann wird zwischen den „Downies“ verglichen, wer was kann. Da gibt es ja solche Unterschiede, Stärken und Schwächen, wie bei anderen Kindern auch. Aber: „Ich mache aus meinem behinderten Kind kein nicht-behindertes!“

Lars habe so seine Marotten, erzählt die Mutter schmunzelnd weiter. „Die haben andere auch“, verteidigt ihn der kleine-große Bruder Nils. Und seinen eigenen Kopf habe Lars, sagt die Schwester Kirsten. Wehe sein Stuhl steht mal an einem anderen Platz!

Lars hatte Liebeskummer

Liebevoll nennen sie es „Einkaufen“, wenn Lars sich bei den Sachen der Geschwister bedient. Dann sind auf einmal Schnürsenkel aus den Schuhen verschwunden, weil sie Lars ganz dringend für Bastelarbeiten braucht. Und so kam auch einmal ein Anruf aus der Remberg-schule, der Förderschule, ob Lars echte Ringe verschenke? Lars hatte sie von der Mutter „geborgt“. Für seine Freundin. Schließlich trägt man doch einen Ring, wenn man sich mag. Tage später war er sehr schweigsam. Kein lautes Rufen oder Lachen. Lars hatte Liebeskummer.

Nicht nur bei großen Gefühlen sind alle Menschen gleich. Und doch ist das Leben mit Lars etwas anderes als etwa mit Nils, sagt Schwester Kirsten: „Wenn ich stinkig bin, dann wissen meine anderen Geschwister, was ich meine. Bei Lars frage ich mich: Hat er es gecheckt?“

Obwohl Lars bis heute kein Gespür für den Wert von Geld hat und sich wundert, dass nicht jede Bahn dahin fährt, wo er hin will, wird auch er flügge. Er möchte wie viele andere in eine eigene Wohnung ziehen, vielleicht in eine Wohngruppe? Seine Mutter: „Er ist jetzt ein junger Erwachsener, er will sich auch abnabeln.“

Ohne Lars ist es zu ruhig

Nils versteckt ein Gähnen hinter der Hand. Müdigkeit zu zeigen, gehört sich schließlich nicht, wenn Besuch da ist. Lars ist auch müde. Er nimmt sich ein Kissen, legt seinen Kopf auf die Sofalehne und schläft sofort ein. Die anderen lachen. „Das ist halt Lars.“ Überhaupt wird viel gelacht in diesem Haus. Wenn Lars mal mit einer Gruppe in den Ferien ist, dann wird es ruhig bei den Obels. „Zu ruhig“, sagt Kirsten. Dann fehlt Leben in der Bude.