New York. . Vortanzen für die „West Side Story“: Das Musical gilt bis heute als Karrierekick. Von New York aus kommt das Stück bald nach Essen. Eine Reportage.
Wem gehört die Straße? Auf der 8th Avenue vor den legendären Pearl Studios in New York läuft an diesem Vormittag alles auf ein entspanntes Unentschieden hinaus. Während sich die „Jet Boys“ noch nervös mit den Fingern durch den pomadigen Scheitel fahren, drängen die rassigen „Shark Girls“ schon Richtung Eingang. Die Schlange vor dem Aufzug ist lang. Die Pearl Studios sind die 1. Audition-Adresse des Broadways. Wer hier vorsingt, vorspielt, vortanzt, der hat großes Talent und vielleicht noch größere Träume. Doch alle drei Disziplinen gleich gut zu beherrschen, das wird in der Branche selten verlangt. Deshalb gilt die „West Side Story“ von 1957 noch heute als Königsklasse des Musicals.
Und weil der Klassiker von Arthur Laurents mit der genialen Musik von Leonard Bernstein und seiner Migrations-Problematik immer noch zeitgemäß erscheint, wird die Produktion in den nächsten Monaten in einer taufrischen Neueinstudierung der Originalproduktion wieder auf Weltreise geschickt. Das deutsche Publikum wird der „West Side Story“ ab dem 21. Dezember im Essener Colosseum zujubeln. Danach geht die Produktion auf große Tour: Dublin, Istanbul, Prag, Dubai.
Für die meisten Darsteller, die an diesem Morgen im Umkleideraum ihre Dehnübungen absolvieren, wäre es das erste Mal, die Heimat zu verlassen. „I like to be in America“ singen sie mit breit-quäkendem Hispano-Englisch. Der Ton muss stimmen, die Herkunft auch. Deshalb wird das Ensemble immer noch da gecastet, wo die „West Side Story“ 1957 ihren einzigartigen Siegeszug antrat: am Broadway. Dort, wo sich hunderte junger Frauen für eine Rolle bewerben. Und die Männer höher und graziler springen als mancher Ballettstar. „Danach suchen wir, nach den ungeschliffenen Rohdiamanten“, so Martin Flohr, Executive Director des deutschen Veranstalters BB Promotion. Die West Side Story lebe eben vom jugendlichen Übermut, vom Sturm und Drang, nicht von der langen, professionellen Künstlervita. Die Tage in den Pearl Studios sollen dafür sorgen, den strahlendsten Tony, die bezauberndste Maria aus dem Pulk der Bewerber herauszufinden.
„Hoffentlich können sie singen!“
Bevor sich der Probensaal im 12. Geschoss an diesem Vormittag mit Schweiß und Adrenalin füllt, trifft Choreograf Joey McKneely letzte Absprachen mit Musical Director Donald Chan. McKneely und Chan gehören zum erlesenen Kreis der Künstler, die die preisgekrönten Inszenierung einstudieren dürfen, die heute als weltweit einzige die Originalchoreografie von Jerome Robbins zeigt, einem der Urväter des Musicals. Donald Chan hat das Stück schon über 3000 Mal dirigiert. Mit väterlichem Lächeln hilft er so manchen Wackel-Kandidaten durch die rhythmisch hochkomplexe Partitur, mit der der damals 39-jährige Harvard-Absolvent Leonard Bernstein eine kleine Revolution im Musical-Genre einleitete. Joey McKneely war schon als Assistent dabei, als Jerome Robbins noch persönlich an der Original-Choreografie gefeilt hat. „Die Qualität der Tänzer“, sagt McKneely, „ist seither noch besser geworden.“ Doch die stimmlichen Hürden sind weiter hoch. „Sie kommen in den Raum und man denkt: Hoffentlich können sie singen!“, beschreibt der Regisseur den kritischen Moment, in dem auch der stattlichste Tony möglicherweise wieder zum B-Kandidaten schrumpft. McKneely, der drahtige Mittfünfziger, hat diesen aufreibenden Dreikampf von Singen, Spielen und Tanzen schon mehrfach begleitet, er ist in diesem Stück zu Hause, das von einem Ensemble gespielt wird, so divers wie das Land selbst: Europäische Einwanderer gegen die Zugezogenen aus Puerto Rico, Jets gegen Sharks, Jazz gegen Mambo und Cha-Cha-Cha. Romeo und Julia in Manhattan, mitten in einem brodelnden Konflikt der „Halbstarken“, wie es bei der Uraufführung 1957 noch hieß.
„Der Traum eines jeden Tänzers“
Ein Straßengang-Drama, das mit Messern und Schlagringen, aber eben auch mit hinreißenden Songs wie „Tonight“ oder „Somewhere“ ausgefochten wird und bis heute nichts an seiner Strahlkraft verloren hat. Schon gar nicht im Lebenslauf eines angehenden Musical-Stars. „Die West Side Story ist der Traum eines jeden Tänzers“, versichert der junge Matthew und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Musik: „fantastic!“ Die Tanznummern: „terrific!“ Jedes schiefe Lächeln, jedes lässige Schulterzucken, jedes Fingerschnippen hat er vorher ein Dutzend Mal durchgespielt. Und trotzdem ist McKneely nicht ganz zufrieden mit der vortanzenden Gruppe: „Achtet auf eure Energie, meine Herren, wir sind hier nicht am Strand.“ Spannung bis in die Fußspitzen, Sprünge bis unter die Saaldecke und diese aufreizende Lässigkeit, dafür ist die „West Side Story“ eben berühmt, spätestens seit der legendären, mit zehn Oscars dekorierten Verfilmung von 1961.
Die 24-jährige Michelle hat den Film noch nie gesehen, aber eigentlich sieht sie doch jeden Tag das, was das Stück thematisiert: Die Rivalität auf der Straße, der Kampf um einen Platz in der Gesellschaft. Und so ist das Shark-Girl eine Rolle, aber auch ein Stück Identität. „Ich glaube an alles, was die Sharks verkörpern“, erklärt Carley: „Die Leute beurteilen mich an jedem Tag nach meiner Hautfarbe.“ Der 20-jährige George hat gerade erst die Schule beendet. Der gebürtige Grieche lebt seit vier Jahren in Amerika, für das authentische Einwandergefühl hat er nicht lange proben müssen: Das bringt er wie die meisten hier von zuhause mit.