Oberhausen. . Die Ludwiggalerie in Oberhausen verleiht seit bald 40 Jahren Kunst in der Artothek. Wie es sich mit solch einem Bild in den eigenen vier Wänden lebt.
Was wäre, wenn der Picasso an der Wand keine Kopie, sondern ein Original wäre? Wenn man bei sich zu Hause ein Bild hätte, das nicht tausendmal nachgedruckt wurde, sondern eines, das (zumindest für einen selbst) wertvoll ist? In einer Artothek wie die der Ludwiggalerie im Schloss Oberhausen kann man Gemälde leihen wie Bücher in der Bibliothek. Und das seit bald 40 Jahren.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt Ursula Bendorf-Depenbrock, die Künstlerische Leiterin der Artothek. „Ich schaue mich erstmal um“, antwortet eine Besucherin. Mit mir geht die Diplom-Designerin durch die Räume, erklärt Maler und Techniken, Grafiken und Skulpturen. „Was suchen Sie?“ Ich möchte lieber finden, nicht suchen. Menschen wählen oft intuitiv, so die Expertin. Andere bringen Fotos vom Wohnzimmer mit: „Haben Sie etwas Passendes zum blauen Sofa?“ Allein im vergangenen Jahr haben so 163 Menschen mindestens eines der rund 2000 Bilder in Oberhausen ausgeliehen.
Fotografien von Christos Verhüllungskunst hängen an der Wand und Farbenfrohes von Otmar Alt. Ich sehe eine Halde vor einem orangegefärbten Himmel von HA Schult. Auch einen Picasso soll es laut Katalog geben. Aber der muss ausgeliehen sein. Was sehe ich da? Einen Chagall! Soll ich ihn mitnehmen?
Meine Gäste würden Augen machen. Ein echter Chagall in meinem Flur! Aber das sagt der Kopf. Der Bauch will das Bild nicht. Ich vermisse die für Chagall typischen, leuchtenden Farben. Ich möchte ein Bild, auf dem ich immer wieder etwas Neues entdecke, eines, über das wir sprechen, wenn Freunde und Familie da sind. Welches könnte das sein?
„Das!“, sage ich. „Das möchte ich!“ Ich zeige auf ein abstraktes Bild in kräftigen Blautönen. Ursula Bendorf-Depenbrock sagt: „Es ist ein Kofferformat“. Diese Papiergröße passe ins Gepäck. Denn Sigrid Kuntz aus Essen male meist auf Korfu. Damit hat sich auch die nicht ganz unwichtige Frage geklärt, ob das Bild in mein Auto passt.
Drei Monate lang gehört das Bild mir
Bevor ich es gut verpackt mitnehme, zeige ich meinen Ausweis, gebe Adresse und Telefonnummer an, unterschreibe ein Formular. 10 Euro Leihgebühr zahle ich für drei Monate. Bald sind es 11 Euro. „Ein Großteil geht für die Versicherungsprämie drauf“, sagt Barbara van Gellecom, die die Artothek verwaltet.
Zuhause stelle ich das Bild auf die alte Kommode in der Diele. Und während ich noch überlege, ob ich für die drei Monate einen Nagel in die Wand schlagen soll, verändert sich die Atmosphäre. Der Flur verwandelt sich in einen Raum, durch den man nicht mehr nur läuft, sondern in dem man innehält.
„Acryl auf Papier“, ist hinten auf dem Rahmen zu lesen, neben: „Ohne Titel“. Das Bild soll bestimmt nichts Gegenständliches zeigen, aber trotzdem kreisen alle Gespräche erst einmal darum: Was sieht man? Als in der Artothek mein erster Blick auf das Bild fällt, erkenne ich eine Tänzerin aus der Vogelperspektive. Ich sehe ihren dunklen Haarschopf und wie sie voller Lebensfreude ihren rechten Arm weit nach hinten ausstreckt. Das lange Kleid schwingt beim Drehen. „Das ist ein herabstürzender Vogel“, widerspricht ein Freund. Der Kopf ist bei ihm ein Auge. „Eine Blume“, meint meine Mutter. Sie sieht Stiel und Blüte. Aber die Tänzerin? „Sehe ich nicht.“ Eine Freundin dreht das Bild um: „Jetzt wirkt es positiver, es geht nach oben.“ Ich frage mich: Inwiefern sagt das, was wir in einem abstrakten Bild sehen, etwas über unsere Stimmung aus? Und warum erkennen die meisten in dem Bild einen Schwertfisch?
„Besuch ist wie Fisch – nach drei Tagen stinkt er“, hat mal Benjamin Franklin gesagt. Doch das Zitat des amerikanischen Staatsmanns trifft auf diesen Gast nicht zu: Jeden Morgen werfe ich auf dem Weg zum Bad einen Blick auf das Bild. Ich sehe die übereinandergelegten Farbschichten. Kratzspuren in der Farbe geben dem Bild eine spannende Struktur. Wie hat die Künstlerin das gemacht?
In wenigen Wochen müssen wir uns trennen. Ich werde die Tänzerin vermissen. Es sei denn, ich kaufe das Bild. Das geht, wenn es mit dem Buchstaben K gekennzeichnet ist. Für 450 Euro würde es mir gehören. Aber vielleicht ist der Picasso auch wieder da. Den würde ich ja gerne leihen. Aber nur, wenn bei seinem Anblick mein Bauchgefühl stimmt.
Die Artothek in Oberhausen öffnet am ersten Donnerstag eines Monats.
Die Künstlerin, die ihre Bilder verleiht
Was sagt eine Künstlerin, wenn Menschen in ihrem abstrakten Bild so etwas Profanes wie einen Schwertfisch zu erkennen meinen? „Warum nicht?“, ist Sigrid Kuntz’ Antwort. „Man neigt immer dazu, etwas zu suchen in einem Bild. Aber das ist ja auch das Spannende daran, man beginnt zu diskutieren.“ Und was habe sie selbst bei diesem Bild gedacht, das Menschen in der Oberhausener Artothek ausleihen können? (Artikel oben) „Fragen Sie mich nicht, was das bedeutet“, sagt Sigrid Kuntz lächelnd. „Wenn ich aus dem Bauch heraus arbeite, weiß ich nie, was dabei herauskommt.“
Das klingt nach einer großen Leichtigkeit, dabei ist die Essenerin sehr streng mit sich. „Manchmal schimpfe ich richtig mit dem Bild.“ Erst wenn für sie alles stimmig ist, wenn keine Bildseite gefühlsmäßig zu kippen droht, sei es perfekt.
Sigrid Kuntz malt seit ihrer Schulzeit. Die Diplom-Designerin hat an der Fachhochschule für Design in Dortmund und an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Mehrere Weiterbildungen ergänzen ihren langen Lebenslauf, darunter auch ein Workshop bei Markus Lüpertz. Dabei gibt es nicht den einen Kuntz-Stil. Die Künstlerin lässt sich von Stimmungen leiten. So sind die Arbeiten in ihrem Atelier sehr vielfältig, Aktzeichnungen mit Kohle sind dort zu sehen, Pastell- und Mischtechniken. „Ich weiß, wie ich gestern gemalt habe und heute male“, sagt Sigrid Kuntz, „aber ich weiß nicht, wie ich in Zukunft male.“
Das ausgeliehene Acryl-Bild ist vor zehn Jahren in ihrer „blauen Phase“ entstanden. Mit kleinen Rollen hat sie die Acrylfarbe in verschiedenen Blautönen aufgetragen und mit den Zacken eines Schabers in die Farbschichten geritzt. Natürlich war das auf Korfu. Seit 21 Jahren fliegt Sigrid Kuntz im Mai auf die griechische Insel, um sich dort vier Wochen lang in einem kleinen Ort hoch über dem Meer mit anderen Künstlern zu treffen, zu arbeiten, zu diskutieren. „Da kann ich mit den Farben rumsauen“, sagt sie schmunzelnd. Besser als in ihrem kleinen Atelier zu Hause. Da zeichnet sie meist.
Manche Bilder würde sie niemals hergeben, andere sind treue Wegbegleiter, bevor Sigrid Kuntz sie in die freie Welt entlässt: „Es ist ein schönes Gefühl, wenn Menschen meine Bilder mögen und sie deshalb ausleihen.“ Ohne die Werke der freischaffenden Künstler würde die Artothek nicht funktionieren, hat Ursula Bendorf-Depenbrock gesagt, die Künstlerische Leiterin in Oberhausen. Ab und an kaufe auch dort jemand eines ihrer Bilder, sagt Sigrid Kuntz, aber viel Geld verdiene sie nicht damit. „Das Wichtigste ist mir die Freude daran, die eigene beim Malen, und dass sich die Leute an meinen Bildern erfreuen.“