Gelsenkirchen. . Reinhold Adam wuchs im Schatten der Fördertürme auf. Wir trafen ihn im Nordsternpark in Gelsenkirchen auf der Pyramiden-Halde.

Als Reinhold Adam ein Junge war, hütete er seine „Bergmannskühe“ – die Ziegen – auf den Wiesen neben den Ruinen der alten Bergbausiedlung. Die Bomben im Zweiten Weltkrieg hatten die Häuser in Horst zerstört, in denen einst Masuren lebten, um auf der Zeche Nordstern zu arbeiten. Nach dem Krieg ging es in Gelsenkirchen bergauf – und so wurden die Trümmer der alten Kolonie unter dem Bergematerial der neu eröffneten Zeche begraben. Geblieben ist die Halde. Und Reinhold Adam. Er erzählt die verschüttete Geschichte so, dass sie lebendig bleibt.

Während er in Erinnerungen schwelgt, steht der 69-Jährige mit der Prinz-Heinrich-Mütze auf einem der künstlichen Hügel im heutigen Nordsternpark. Hinter ihm ragt der Turm seiner Zeche in die Höhe. Mit 14 Jahren hat er sich auf Nordstern als Bergbaulehrling angemeldet. Heimlich. „Mein Vater wollte, dass ich Schlosser in Bottrop werde.“ Der gelernte Friseur, der auf dem Pütt schon mal für ein Schnäpschen den Kumpels die Haare schnitt, wünschte sich für seinen Sohn einen anderen Weg. Vaters Erzählungen über die harte Arbeit unter Tage sollten den Jungen wohl abschrecken. Doch sie bewirkten das Gegenteil: Reinhold Adam wollte auch da runter, wo das schwarze Gold wartete. 35 Jahre lang arbeitete er auf Nordstern, lernte den Beruf des Elektrikers und kämpfte zuletzt als Betriebsratsvorsitzender um den Erhalt der Zeche. Er gewann nicht. „Aber verloren haben wir auch nicht“, betont Adam, während ihm der Wind um die Ohren braust. „Weil wir nicht kampflos aufgegeben haben.“

Heute ist Adam froh, dass seine Zeche nicht das Schicksal einer Industriebrache ereilte. Nicht nur seinen Enkelkindern kann er zeigen, wo der Opa einst gearbeitet hat. Die Menschen kommen von weit her, um zu sehen, um zu hören. „Wenn diese Halden erzählen könnten . . .“, sagt Adam. Das sei nicht nur aufgetürmter Schutt. „In ihnen stecken das Blut, die Tränen und der Schweiß der Bergleute.“

Während die Bergmänner noch einfuhren, gab es schon Pläne für die weitere Nutzung des Geländes. „Eine Blümchenschau? Auf unserer Zeche?“ Das musste der Bergmann erst mal verdauen. Nach der Stilllegung 1993 erblühte auf dem Gelände vier Jahre später die Bundesgartenschau: 1,6 Millionen Menschen besuchten den Nordsternpark.

Bis heute zählt er zu den attraktiven Ausflugszielen im Revier. Dort werden Oldtimer ausgestellt, da wird Marathon gelaufen, Konzerten gelauscht. Von einer Haldenspitze aus sieht man das Amphitheater – die Freilichtbühne. Die Bögen der Brücke, die über den Rhein-Herne-Kanal führen, leuchten an diesem tristen Herbsttag besonders rot. Die Emscher, die einst das Gelände überschwemmte, liegt ebenso versteckt wie der Eingang des „Bergbaustollens“ – ein Lehrpfad, über den ehemalige Bergleute führen.

Adam geht auf einer Treppe die Halde hinunter und schließlich einen sehr geraden Weg – den „Haldendurchstich“ – entlang auf die Kohlenmischanlage der Kokerei zu. Der Hügel zu seiner Rechten ist bewaldet, der Haldenabschnitt zur Linken, auf dem er noch gerade verweilte, wirkt mit seinen steilen Hängen wie eine Pyramide. Der „Haldenpark“ ist zur Bundesgartenschau geformt, geglättet worden. Daher sind die Erhebungen nicht so hoch wie die vielen anderen Halden im Ruhrgebiet. Im Nordsternpark haben sie eher Symbolcharakter. Die Sicht von der „Pyramide“ ist gut, von der Aussichtsterrasse des Nordsternturms aber noch besser.

„Das ist keine Kathedrale des Reviers“, sagt Adam. Das sei ein Ort der Mühe und der Plage. „Das war wie eine Ehe. Wir haben die Zeche gehasst und geliebt.“ Bis heute ist Nordstern für ihn sein zweites Zuhause. Einzig der Herkules ist Adam ein Dorn im Auge. Die Statue von Markus Lüpertz, die seit dem Kulturhauptstadtjahr weit sichtbar auf dem Förderturm thront, ist für den Bergmann ein „Fremdkörper.“ Umso mehr freut er sich, wenn im Advent wieder auf der Turmspitze der Weihnachtsbaum leuchtet. Eine Tradition, an der er sich nun schon seit über 60 Jahren erfreut.

„Bergmann ist kein Beruf“, sagt Adam. „Das ist eine Berufung.“ Deshalb hört er auch nicht auf, an die Nordstern-Geschichte zu erinnern. „Horst im Spiegel der Zeit“ heißt seine Ausstellung, die noch bis zum Samstag, 17. Oktober, von 10 bis 13 Uhr in einem leerstehenden Ladenlokal an der Essener Straße 30 zu sehen ist. Mit Heftzwecken hat Adam Fotos an die Wände gepinnt. Eine große Karte von 1928 zeigt das Zechen-Gelände. Auch die „Alte Kolonie“ ist dort eingezeichnet. Von der Bergbausiedlung, deren Trümmer unter einer Halde vergraben liegt, ahnt der Besucher des Nordsternparks heute nichts mehr. Es sei denn, er lauscht den Worten von Reinhold Adam.