Essen. Shaolin-Meister Kai Hoffmann und seine Schüler rennen, springen, hüpfen die Schurenbachhalde in Essen hinauf. Wir waren beim Treppen-Training dabei.

. . . 213, 214 und noch die letzte Stufe: 215. Da wird einem schon etwas wärmer, wenn man 215 Stufen hochgegangen ist. Aber diese Stufen zur Schurenbachhalde werden nicht einfach nur gegangen. Die Menschen auf der Treppe laufen hinauf, sie nehmen zwei, drei Stufen auf einmal, hüpfen hoch wie die Frösche, dann springen sie mal nur auf dem rechten Bein, dann wieder nur auf dem linken oder sie tragen sich gegenseitig Huckepack. 215 Stufen. „Wir sind hier nicht zum Joggen“, sagt Kai Hoffmann, der Inhaber und Kung-Fu-Trainer der gleichnamigen Kampfkunstschule in Essen-Haarzopf. Der 31-Jährige und einige seiner Schüler fahren jeden Sonntag zur Halde zum Treppen-Training.

Selbst der Starkregen vor zwei Wochen konnte sie nicht erweichen. „Anfangs ist es eine kleine Überwindung“, gesteht Bernd Bendik, einer der Gipfelstürmer, „aber wenn du auf der Treppe bist, ist es egal. Dann bist du eh nass, vom Regen oder vom Schweiß.“

© Kai Kitschenberg

Der 45-jährige macht schon fast sein halbes Leben lang Kung-Fu. Das Treppen-Training auf der Halde gehört für ihn dazu. Eigentlich zählt noch eine weitere Treppe zu den 215 Stufen. Aber am Fuß der Halde ist eine Baustelle. Der Schurenbach bekommt in diesem Herbst ein neues Bett. Die Emschergenossenschaft holt den unterirdisch verlaufenden Bach wieder ans Tagesicht.

Der Schurenbach bekommt ein neues Bett

Er gab der Halde in Altenessen den Namen, nicht etwa der Bergbau. Der Abraum, der an dieser Stelle in den 70er- und 80er-Jahren zwischen Emscherschnellweg und Rhein-Herne-Kanal aufgetürmt wurde und einen Sportplatz sowie Teile einer Siedlung unter sich begrub, stammt zum großen Teil von der Zeche Zollverein. Den Förderturm des Weltkulturerbes kann man von der Halde aus erblicken.

Selbst die gestähltesten Kung-Fu-Kämpfer müssen sich zunächst warmlaufen. So geht die erste Treppen-Tour weiter hinauf, über den Weg durch das dichte Grün, bis sich plötzlich vor ihnen – zwischen dem Sanddorn mit seinen orangefarbenen Beeren – das weite Grau der gewölbten Schotterfläche auftut. Die zwölf Menschen in den weißen Shirts laufen weiter über den rauen Grund, auf den Mittelpunkt der Halde zu, der immer größer und größer wird, je näher sie ihm kommen: die stählerne rost-rote „Bramme (für das Ruhrgebiet)“.

Drei Stufen auf einmal nimmt Kai Hoffmann auf der Treppe, die ihn hoch zur Bramme auf die Halde führt.
Drei Stufen auf einmal nimmt Kai Hoffmann auf der Treppe, die ihn hoch zur Bramme auf die Halde führt. © Kai Kitschenberg

Der amerikanische Bildhauer Richard Serra hat mit dieser riesigen Stahlplatte (14,5 m über und 13,5 m unter der Erde) den künstlichen Hügel gekrönt und damit auch an die große Zeit der Stahlindustrie im Ruhrgebiet erinnert. „Unangenehm nur, dass die Bramme in Frankreich hergestellt werden musste, da ein solcher Brocken im Ruhrgebiet 1998 nicht mehr gewalzt werden konnte“, schreibt Wolfgang Berke in seinem Haldenführer „Über alle Berge“ (Klartext, 160 S., 13,95 €).

Wie Wesen von einem anderen Planeten

Die Gruppe umrundet die Bramme, läuft zurück zur Treppe. Wie die Kung-Fu-Kämpfer in ihren hellgrauen oder orangefarbenen Shaolin-Hosen über die karge Fläche rennen, wirken sie wie von einem anderen Planeten. So hat Kai Hoffmann die Halde kennen gelernt: Ein Freund drehte während des Filmstudiums eine Art „Star Wars“-Streifen auf der Halde – „mit Laserschwertern.“ Hoffmann, der als Kind gerne Kampfkunstfilme gesehen hat mit Jackie Chan oder Bruce Lee, war beim Dreh dabei. Da entdeckte er die Treppe, die ideal ist für das Training. Nur wenige Spaziergänger kommen ihnen entgegen. Die Stufen sind breit, keiner muss dem anderen ausweichen. Hoffmann: „Der einzige Nachteil ist, dass man keine Liegestütze auf der Halden-Treppe machen kann. Die Löcher in den Stufen sind zu scharf.“

Shaolin meets Schurenbachhalde

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    Und auch für die schöne Aussicht bleibt nur die Zeit beim Warmlaufen. Aber die genießt er: „Den Tetraeder habe ich immer im Blick, den Gasometer und die ganzen Schornsteine, ohne zu wissen, wozu sie alle gehören.“ Das Bergwerk Prosper-Haniel ist zu sehen, ebenso das Essener Rathaus, die Schalke-Arena in Gelsenkirchen und die Brücken über den Rhein-Herne-Kanal. Da vergisst man den Alltag.

    Darum geht es auch bei der Kampfkunst: „Kung Fu ist eine ideale Möglichkeit, den Alltag zu vergessen, sich intensiv mit dem Körper auseinanderzusetzen, seine Grenzen kennen zu lernen und zu erweitern“, sagt Hoffmann. Seine Schüler wirbeln hinter ihm mit mannshohen Stöcken, teilen mit glänzenden Schwertern die Luft. Und dann lässt Hoffmann die Peitsche knallen. „Es ist zur Verteidigung gedacht, aber es wird nicht angewandt“, versucht Carolin Deidewig Kung-Fu zu erklären. Die 17-Jährige ist Abiturientin, Jugendtrainerin, amtierende Deutsche Meisterin in Wushu – einem der Kampfkunststile. Sie trainiert siebenmal die Woche.

    Stöcke wirbeln, Schwerter teilen die Luft – Der Kung-Fu Verein von Kai Hoffmann auf der Treppe der Schurenbachhalde.
    Stöcke wirbeln, Schwerter teilen die Luft – Der Kung-Fu Verein von Kai Hoffmann auf der Treppe der Schurenbachhalde. © Kai Kitschenberg

    „Disziplin ist das A und O“, sagt der drahtige Mann mit dem rasierten Kopf. Hoffmann hat die Selbstbeherrschung jahrelang trainiert, bei den Mönchen in einem Shaolin-Tempel in China. Daher kennt er auch die Übungen, die Körper, Geist und Willenskraft stärken sollen. Von einer Sekunde auf die nächste springt er aus einer tiefen Stellung in die Luft, landet – und verharrt sogleich wieder in der Hocke. Die Hände legt er wie zum Gebet zusammen. „Man muss stehen wie ein Baum, der Oberkörper ist so locker wie eine Wolke.“ Dafür braucht er viel Kraft in den Beinen. Und die gibt ihm das Training auf der „Himmelstreppe“.

    Das ist die Schurenbachhalde in Essen

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      Kaum ein Wölkchen am Himmel. Ein Pärchen schaut auf den Teich unterhalb des Haldenplateaus. Fahrräder liegen vor der Bramme, Pferde haben Hufeisen-Spuren in den Schotter gedrückt. Eltern kommen mit Kindern einen Wanderweg hinauf, dem Wind entgegen. Ein Vater hält einen Drachen in der Hand. Und die elfjährige Nova, eine der Jüngsten auf der Treppe, sagt nach Hunderten von Stufen, die sie gelaufen, gesprungen, gehüpft ist: „Wenn das Anstrengende vorbei ist, fühlt man sich frei.“