Hagen. Allen Krisen zum Trotz sieht NRW keine Einbrüche bei der Beschäftigung. Warum die Unternehmen momentan ungern entlassen. Eine Bilanz für 2022.
Nordrhein-Westfalen hat perspektivisch viel zu wenig Fach- und Arbeitskräfte. Dabei hatten in diesem Jahr 7,3 Millionen Menschen einen sozialversicherungspflichtigen Job. Mehr als je zuvor. Eine erfreuliche Zahl, trotz schwieriger wirtschaftlicher Entwicklung und geringen Wachstums in den vergangenen Monaten. Viele Unternehmen versuchen offenkundig, ihre Belegschaft, wenn immer es geht, zu halten. „Wir sehen, dass wir sehr stark auf einen Fachkräftemangel zusteuern“, erklärte der Chef der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit, Torsten Withake, am Montag in Düsseldorf bei der Jahresbilanz, warum der Arbeitsmarkt 2022 stabil geblieben ist.
Anwerbung in Südamerika
Im Gegensatz zu den Pandemiejahren 2020 und 2021 gibt es aktuell laut Bundesagentur für Arbeit wenig Kurzarbeit und durchschnittlich deutlich weniger Arbeitslose als im Vorjahr. Dabei tauchen seit dem Sommer auch rund 40.000 Menschen aus der Ukraine in der Statistik auf. 14.000 Ukrainer haben nach Schätzungen der Bundesagentur in NRW bereits Jobs gefunden. Diejenigen, die tendenziell in Deutschland bleiben möchten, „setzen alles daran, in eine Beschäftigung zu kommen“, ist Withakes Beobachtung.
Den bereits akuten Mangel an Fachkräften wird dies aber kaum nachhaltig mildern können. Sowohl Gewerkschaft als auch Arbeitgeber setzen hier auf andere Möglichkeiten. NRW-Arbeitgeberpräsident Arndt G. Kirchhoff nennt die gezielte Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten, die helfen könnte, wenn die bürokratischen Hürden bei der Anerkennung von Qualifikationen nicht zu hoch gehalten werden: Angeworben werden sollte nicht innerhalb der Europäischen Union, „damit wir uns hier nicht kannibalisieren“, rät Kirchhoff und liegt mit NRW-DGB-Chefin Anja Weber auf einer Linie.
Vielmehr sollte der Blick in andere Erdteile gerichtet werden. „Süd- und Mittelamerika und Asien“, nennt der Attendorner Unternehmer. Statt des oftmals langwierigen Anerkennungsverfahrens für im Ausland erworbene Berufsqualifikationen sollte flexibel vorgegangen werden. „Lasst die Menschen doch arbeiten, auch wenn das Sprachniveau noch nicht besonders ist.“ Meister und Fachkräfte könnten im Praxistest sehr gut beurteilen, welche Fähigkeiten die Bewerber hätten. Ein pragmatischer Ansatz, den auch Agenturchef Withake befürwortet: „Wir sollten tatsächliche Kompetenzen statt formale Abschlüsse in den Blick nehmen.“
Zuwanderung sei ein wichtiger Baustein zur Fachkräftesicherung, bestätigt Weber, richtet den Blick allerdings vor allem auf die Potenziale vor der Haustür. Eine alte DGB-Forderung lautet hier: „Ausbildungsplatzumlage“. Obwohl in diesem Jahr rund 10.000 Lehrstellen in NRW unbesetzt bleiben werden, gebe es beispielsweise im Ruhrgebiet bei weitem noch kein ausreichendes Angebot. „Wenn mehr Ausbildungsplätze angeboten werden, werden auch mehr junge Menschen diese Chance suchen“, glaubt Weber. In gewisser Weise wird sie durch die Entwicklung in Südwestfalen bestätigt. Hier wurden deutlich mehr Lehrstellen angeboten. Trotz sinkender Zahl an Schulabgängerinnen und Schulabgängern gelang es, deutlich mehr Ausbildungsverträge abzuschließen. Ein dringend notwendiger Erfolg. Im ländlichen Raum ist der Druck, neue Fachkräfte zu gewinnen, durch die demografische Entwicklung am höchsten in NRW. Das gilt für Südwestfalen ebenso wie für das Münsterland und Ostwestfalen. Für die Unternehmen ist eine solche Umlage nach wie vor indiskutabel, so Kirchhoff.
Impuls vom Bürgergeld erhofft
Wie viel Fachkräfte-Potenzial NRW bislang noch liegen lässt, zeigt die Zahl von rund 50.000 jungen Leuten im Alter unter 25 Jahren, die arbeitslos gemeldet sind. Weniger als in Vorjahren, aber auch nur die sichtbare Spitze der Unversorgten. Die Unternehmen seien durchaus in der Lage, auch Jugendliche ohne Schulabschluss auszubilden, versichert Kirchhoff: „Und sie würden dies auch tun, wir müssen die Jugendlichen nur kennen. Das scheitert am Datenschutz. Das gilt auch für Studienabbrecher. Die müssen nicht alle Taxifahrer werden, weil sie im Ingenieurstudium Mathe III nicht geschafft haben. Das kann passieren“, ermutigt der Präsident von Unternehmer NRW – und offenbart, wie groß die Sorge heute schon ist, morgen, wenn wieder bezahlbare Energie vorhanden ist, am Standort Deutschland aufgrund von fehlenden Fachkräften Produktionsprobleme zu bekommen. Von mangelnder Ausbildungsreife, wie zu früheren Zeiten, scheint hier bei den Arbeitgebern keine Rede mehr zu sein. Regionaldirektions-Chef Torsten Withake setzt im kommenden Jahr auf die verbesserten Anreize für Qualifikation durch die Einführung des Bürgergelds. Arbeitslose, die dann in eine Qualifikation streben, bekommen mehr Zeit, vor allem aber mehr Geld als diejenigen, die sich nicht bewegen. „Das wird sich positiv auswirken“, ist Withake überzeugt.
Wie weit die Summe der Instrumente wie Zuwanderung, mehr Ausbildungsplatzangebote und Qualifikation von jungen und lange Zeit Arbeitslosen (immer noch 300.000 in NRW) unter dem Strich ausreichen wird, um den Fachkräftemangel in NRW abzumildern, hängt sehr von der konkreten Umsetzung ab. Auch die Weiterbildung im Betrieb wird immer wichtiger.
Flächendeckendes Beschäftigungswachstum
Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse ist 2022 in NRW in allen Regionen gestiegen auf aktuell rund 7,3 Millionen. Stand März zählte die Bundesagentur in NRW ein Plus von 165.158 im Vergleich zum Vorjahr auf insgesamt 7.231.650. Mit nur plus 8453 auf 569.408 (plus 1,5 Prozent) stieg die Beschäftigungszahl in Südwestfalen am geringsten. Das Ruhrgebiet legte um 2,4 Prozent oder 40.046 auf 1.704.954 zu. Mit plus 65.271 neuen Jobs auf dann 2.710.956 Millionen (plus 2,5 Prozent) wuchs die Zahl im Rheinland absolut am stärksten. Das Münsterland verbuchte 17.883 neue Jobs (685.312/plus 2,7 Prozent). Ostwestfalen-Lippe kam auf plus 20.831 (878.932/plus 2,4 Prozent), das Bergische Land auf 12.674 plus (682.088/plus 1,9 Prozent).