Bochum. Das Ruhrgebiet will sich als „Experimentierfeld“ bei der Wiederbelebung aussterbender Innenstädte profilieren. Erste Projekte gibt es bereits.
In Bottrop und Witten warten verwaiste Kaufhof-Immobilien auf eine neue Nutzung. Nach Abschluss des Insolvenzverfahrens von Galeria könnten weitere Problemfälle hinzukommen. Doch das sind längst nicht die einzigen Leerstände. Das Ruhrgebiet will das Problem aussterbender Innenstädte im Schulterschluss lösen und bietet sich als „Experimentierfeld“ für ganz Deutschland an.
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„Quartiersentwicklung ist der Schlüssel für die Zukunft der Städte. Wir müssen kleinräumig denken. Im Ruhrgebiet liegt das Labor dafür vor der Tür“, sagt einer, der sich wissenschaftlich mit Innenstädten beschäftigt: Torsten Bölting, Professor für Wohn- und Raumsoziologie an der EBZ Business School in Bochum. Mit klugen Konzepten, davon ist Bölting überzeugt, könnte das Ruhrgebiet internationales Vorbild werden. „Die Region ist mit ihren mehr als fünf Millionen Einwohnern eine große Stadt der Quartiere, wenn nicht sogar die größte Experimentierlandschaft in Europa. Hier können auch neue Energie- und Mobilitätskonzepte getestet werden“, meint Bölting.
Zweitägiger Quartierskongress in Bochum
Ein hehres Ziel, das gar nicht so unrealistisch ist. Angestoßen von den Chefwirtschaftsförderern aus Duisburg und Bochum, Rasmus Beck und Ralf Meyer, treffen am Donnerstag und Freitag Expertinnen und Experten von nah und fern in Bochum zum ersten „Quartierskongress“ zusammen. Die Wahl des Tagungsortes fiel nicht von ungefähr auf die Revierstadt. In Bochum sitzt „Die Immobilien-Hochschule“, wie sich die EBZ Business School im Untertitel nennt. Rund 25 Prozent der angehendenden Immobilienkaufleute bundesweit absolvieren hier ihre Ausbildung.
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„Für die urbane Transformation fehlt bislang der ganzheitliche Blick von Stadtentwicklung, Wissenschaft und Wohnungswirtschaft. Dafür brauchen wir eine bundesweite Plattform“, sagt EBZ-Rektor Daniel Kaltofen. Die wurde nun mit dem ersten Quartierskongress geschaffen, der keine Eintagsfliege sein soll. Er sei mit Anmeldungen innerhalb weniger Tage überlaufen worden, berichtet der Wissenschaftler und meint: „Das Thema Quartiersentwicklung scheint zu ziehen.“ Es sei vieles im Umbruch, vor allem wie Menschen künftig arbeiten und wohnen werden. Kaltofen: „Wir haben in den Innenstädten eine wachsende Anzahl von Leerständen, wenige Wohnungen und zugleich wird zunehmend mobil gearbeitet.“
Mit dem Wandel haben sich die Stadtverwaltungen auseinanderzusetzen. „In Bochum haben wir erste Unternehmen, die ganz ohne eigenes Gebäude auskommen. Die Beschäftigten bleiben Angestellte, arbeiten aber von zu Hause aus“, berichtet Wirtschaftsförderer Ralf Meyer. „Dabei müssen wir aufpassen, dass wir keinen Nachteil gegenüber Steueroasen haben oder auf Gewerbesteuern verzichten müssen.“
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Das mobile Arbeiten führt zu Leerständen von Bürogebäuden, die Krise großer Handelsketten wie Galeria, Görtz, Salamander und anderer zu verwaisten Ladenlokalen. Zumal auch immer mehr mittelständische Fachhändler vor der Übermacht der Onlineshops kapitulieren. „Mono-Strukturen wie reiner Einzelhandel und Dienstleistungen werden in den Innenstädten nicht mehr funktionieren. Deshalb müssen wir den Quartiersgedanken in die Innenstädte bringen“, fordert Meyer und ist damit längst nicht allein.
„Silo-Denken in den Städten“
Sein Duisburger Amtskollege Rasmus Beck ist jüngst mit einem Vorstoß im WAZ-Podcast „Die Wirtschaftsreporter“ auf große Resonanz gestoßen: Vorlesungs- und Seminarräume der Hochschulen sollen die Innenstädte beleben. In der City überschüssige Handelsflächen in Wohnraum zu verwandeln und dort mehr Gastronomie und Freizeitangebote zu schaffen, ist längst Konsens und hier und da auch geübte Praxis. „Es gibt in den Kommunen viele Projekte, aber noch zu wenig Wissensfluss untereinander. Stattdessen haben wir eine Art Silo-Denken von Wirtschaftsförderern, Stadtplanern und Immobilienbranche“, urteilt Beck. Deshalb soll die EBZ in Bochum nun „Ort des Austauschs“ sein. „Es braucht innovative Ideen, Wohnen in den Innenstädten möglich zu machen. Die öffentliche Hand kann hier wichtige Impulse setzen“, argumentiert auch Svenja Haferkamp, Bereichsleiterin Strategie beim kommunalen Duisburger Wohnungsunternehmen Gebag.
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„Es kann doch nicht richtig sein, dass jede Kommune im Ruhrgebiet ihre eigenen Erfahrungen machen muss, um die Innenstadt wiederzubeleben“, meint der Duisburger Wirtschaftsförderer und formuliert den Anspruch, bei der Revitalisierung der Stadtkerne „vor die Welle zu kommen“, die bundesweit ins Rollen kommt. „Bei diesem Thema wollen wir gegenüber anderen Regionen die Nase vorn haben“, macht auch der Bochumer Wirtschaftsförderer Meyer Tempo.
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Beide betonen, dass die finanziell klammen Städte nicht nur bei Genehmigungsverfahren eine Rolle spielen sollen, sondern auch als Investoren. Beck: „Wenn Kommunen in der Lage sind, zentrale Immobilen in den Innenstädten wie nicht mehr genutzte Warenhäuser zu erwerben, wäre das ein Schlüssel für neue Nutzungskonzepte.“
>>> Zahlreiche Unterstützer
Neben den Wirtschaftsförderungen Duisburg, Dortmund und Bochum gibt es eine Reihe von Unternehmen und Institutionen, die den Quartierskongress unterstützen. Zu ihnen zählen der Regionalverband Ruhr, die Emschergenossenschaft, der Digitalcampus Zollverein, aber auch Immobilienkonzerne wie Gebag, Vonovia, RAG Montan und Vivawest.