Hagen/Düsseldorf. Die Stahlindustrie steht kurz vor Tarifverhandlungen. Tatsächlich geht es für Unternehmen und Beschäftigte gerade um die Zukunft in Deutschland.
Die Industriegewerkschaft Metall ist bekannt dafür, ordentliche Tarifabschlüsse für die Beschäftigten zu erzielen. 8,2 Prozent mehr Lohn und Gehalt, wie sie für die Tarifverhandlungen der nordwestdeutschen Eisen- und Stahlindustrie am Dienstagabend formuliert wurden, sind in Zeiten wie diesen allerdings schon eine mächtige Forderung. Man könnte meinen, der Branche muss es glänzend gehen. „Wenn alles so bleibt, kann es ein ordentliches Stahljahr werden“, bestätigt sogar der geschäftsführende Vorstand des Arbeitgeberverbands (AGV) Stahl, Gerhard Erdmann. Der AGV sitzt am 13. Mai zum Start der Tarifverhandlungen der IGM gegenüber.
Arbeitgeber: „Situation ist fragil“
Dass Erdmann, hauptberuflich Finanzchef des Duisburger Stahlunternehmens Hüttenwerke Krupp Mannesmann (HKM), im Vorfeld den ersten Aufschlag der Gewerkschaft zurückweist, könnte man als Ritual abtun. Zumal es vielen Stahlherstellern im vergangenen Jahr viel besser erging als gedacht und auch aktuell statt eines erwarteten Einbruchs positive Gewinnwarnungen abgegeben werden. Dennoch: „Die Situation ist im Moment einfach so fragil, dass wir nicht wissen, was morgen ist“, sagt Gerhard Erdmann.
Die Verhandlungen werden schließlich zu einem Zeitpunkt begonnen, an dem rasant steigende Energie- und Rohstoffpreise die deutsche Wirtschaft ebenso wie jeden Bürger beschäftigen, der an der Obsttheke ebenso wie an der Tankstelle tiefer ins Portemonnaie greifen muss. An dem bis zum Zerreißen gespannte oder bereits unterbrochene Lieferketten jeden Moment für Stornierungen in den Werken sorgen könnten – und an dem nicht zuletzt der Ausgang eines unheiligen Krieges in Europa wenig bis nichts sicher vorhersagen lässt.
Was, wenn Deutschland das Gleiche passiert wie Polen und Bulgarien und der russische Gashahn zugedreht wird? „Das Entscheidende ist die beschriebene Unsicherheit“, sagt Erdmann, der darauf setzt, einen vernünftigen Kompromiss in einer Situation irgendwo zwischen einer völlig normalen Tarifrunde und der Ausnahmesituation Krieg hinzubekommen.
Einen Brückenabschluss, um in normaleren Zeiten Tarifverhandlungen zu führen, hält der Stahl-Manager für unwahrscheinlich: „Die Erwartungshaltung in den Unternehmen ist so, dass eine erneute Einmalzahlung nicht konsensfähig wäre.“ Das liegt auch daran, dass die letzte Erhöhung der Monatsbezüge im Jahr 2019 datiert. 3,7 Prozent gab es. Danach folgten, dem schlechten Stahljahr 2020 geschuldet, nur noch Corona-Prämien und Einmalzahlungen.
Arbeitskreis Südstahl in Hagen
Angesichts der hohen Inflationsrate von möglicherweise fünf bis sechs Prozent in diesem Jahr und den momentan guten Geschäften, scheint es verständlich, dass die bundesweit rund 80.000 Stahlarbeiter nicht länger Reallohnverluste hinnehmen mögen.
Gewerkschafter, Stahl-Manager und Betriebsräte treibt aber noch weit mehr um als der kommende Poker um die Fülle der Lohntüte. In Hagen, einer Stadt, in der einmal zigtausend Menschen ihr Brot mit Eisen und Stahl verdienten und in der heute bei den Deutschen Edelstahlwerken (DEW) nur noch ein paar Hundert in der Branche arbeiten, trafen sich am Dienstag und Mittwoch rund 30 Betriebsräte des Arbeitskreises Südstahl aus den Stahlwerken dieser Republik.
Was sie wirklich bewegt, brachte IG Metall Vorstand Heiko Reese auf den Punkt: Nicht weniger als die Zukunft der Branche in Deutschland, die möglichst schnell grünen Stahl herstellen muss.
Bei der Transformation sollte eigentlich Gas als „Brückenenergie“ helfen. Wird der Gashahn zugedreht, auf null oder auch nur auf 30 Prozent, „haben wir innerhalb von Tagen Stillstand“, sagt Reese. Auf Bitten der Bundesnetzagentur sei dies aktuell bei den Stahlherstellern abgefragt worden. Käme es so, müssten nicht nur die Stahlarbeiter Däumchen drehen. Innerhalb kürzester Zeit wären auch Unternehmen in der anschließenden Wertschöpfungskette betroffen. „Dann reden wir schnell über Millionen Beschäftigte“, mahnt Reese, auch, um die Bedeutung der Stahlbranche für die deutsche Wirtschaft noch einmal klar zu machen.
Nicht für Manager in den Chefetagen oder die Betriebsräte, mit denen der Gewerkschafter in Hagen diskutiert. Nicht einmal für die Belegschaften am Hochofen, sondern für die Entscheider in den Regierungen in Düsseldorf, Berlin und Brüssel, die die Transformation hin zu grünem Stahl mit Technikförderung und verlässlichen Zusagen begleiten müssten. Am besten gestern.
„2022 müssen wir die Rahmenbedingungen klar haben, damit die Unternehmen die Investitionsentscheidungen treffen und die Anlagenbauer beauftragen können“, sagt Reese. Und die Betriebsräte aus Bayern, dem Saarland oder NRW wissen dies längst. Viel mehr als die 8,2 Prozent-Forderung beschäftigt sie die Frage, warum es in der Politik in Düsseldorf und Berlin aus ihrer Sicht immer noch keine klare Positionierung für deutschen Stahl gibt.