Hagen. Die Verbraucherzentrale NRW wird gegen Stadtwerke wegen hoher Preise klagen – Auslöser ist aber der Billiganbieter Stromio, der „getrickst“ habe.

Hunderttausende Strom- und Gaskunden bundesweit sind im Dezember in extrem teure Sonder-Grundversorgungstarife geschleudert worden, nachdem ihnen von den Energiediscountern Stromio, Grünwelt und Gas.de die Verträge gekündigt wurden. Eine kuriose Situation auf dem vor rund zwanzig Jahren liberalisierten Energiemarkt. Damals versprach sich die Politik durch Abschaffung von Monopolstrukturen mehr Wettbewerb, also fairere Preise für die Verbraucher. Aktuell ist für viele das Gegenteil der Fall.

Discountmodell gescheitert

Die gekündigten Kunden werden nun von den Versorgern vor ihrer Haustür beliefert, weil diese dazu verpflichtet sind. Überwiegend sind dies Stadtwerke, bundesweit über 300, die eingesprungen sind. Die Konditionen sind für die „Zwangsneukunden“ allerdings extrem teuer. Beim Strom lagen sie zwischenzeitlich zum Teil mehr als drei Mal so hoch wie im ohnehin bereits teuren Grundversorgungstarif.

Mit Rheinenergie aus Köln, den Stadtwerken Gütersloh und den Wuppertaler Stadtwerken (WSW) mahnte die Verbraucherzentrale NRW deshalb vergangene Woche exemplarisch drei Versorger ab und forderte Preissenkungen. Bei einer Stichprobe am 10. und 11. Januar 2022 unter 23 Versorgern in NRW lagen die drei mit an der Spitze bei den Preisen. Statt rund 30 Eurocent pro Kilowattstunde (kWh) Strom hatten sie zwischen rund 73 und 92 Eurocent aufgerufen und auch die Grundpreise deutlich erhöht. Die drei genannten Versorger hatten bis vergangenen Donnerstag Zeit, die Abmahnung anzunehmen – aber sie denken gar nicht daran.

In der kommenden Woche gehen die Klagen auf den Weg

Für Udo Sieverding, Energieexperte der Verbraucherzentrale NRW, keine Überraschung, denn kurzfristig zusätzlich eingekaufte Energie ist aktuell ja tatsächlich extrem teuer. Dennoch: „In der kommenden Woche werden gegen die drei Anbieter entsprechende Klagen auf den Weg gebracht“, sagt Sieverding. Unabhängig davon, dass viele Grundversorger inzwischen die Preise für Strom auch für die Neukunden seit Dezember wieder etwas gesenkt haben – wie die WSW. Auch der Hagener Versorger Enervie mit seinen Anbietern Mark-E und Lüdenscheider Stadtwerke hat eine Senkung angekündigt. Bei der Stichprobe hatten die Hagener bei gut 57 Eurocent pro kWh gelegen, die AVU, die im Ennepe-Ruhr-Kreis Schwelm, Gevelsberg, Ennepetal und Breckerfeld versorgt, also zwischen Hagen und Wuppertal anbietet, lag da bei rund 52 Eurocent.

Mindestens ebenso hoch wie für Strom sind die Angebote, die für kurzfristige Gasbelieferung aufgerufen werden. In Summe wären das auf ein Jahr betrachtet, je nach Verbrauch, bis zu mehrere tausend Euro pro Haushalt, die zusätzlich für Energie ausgegeben werden müssten.

Mark-E, AVU und WSW haben jeweils tausende Kunden von Stromio über Nacht „geerbt“

Mark-E, AVU und auch die WSW haben jeweils ein paar tausend Kunden von Stromio und Co. sozusagen über Nacht geerbt. Zu einem Zeitpunkt, als die Megawattstunde Strom in der Spitze bei über 500 Euro im Einkauf lag. Zum Vergleich. Im ersten Coronajahr 2020 war der Preis auf unter 40 Euro pro Megawattstunde gesunken. Die Versorger argumentieren, dass sie für die vielen plötzlichen Neukunden Strom und Gas zu den tagesaktuell extrem hohen Preisen einkaufen müssen. Ohne die Extratarife für diese Neukunden müssten auch die treuen Bestandskunden die Zeche mitzahlen und Preiserhöhungen hinnehmen. Vor dieser Bestrafung wolle man die Bestandskunden schützen. Rechtlich eine Gratwanderung, wissen die Versorger.

Normalerweise wird bei seriösen Anbietern im Wesentlichen langfristig und mit überschaubarem Risiko eingekauft, während Discounter auf Schnäppchen an der Strombörse hoffen und so bei aktuell hohen Preisen ein viel höheres Risiko eingehen.

Stromio & Co. haben sich dieses Risikos kurzerhand durch Kündigung ihrer Kunden entledigt und die Versorgung einfach auf die Schultern der vielen Stadtwerke abgeworfen – und das Risiko dazu. Kunden in der Grundversorgung können quasi jederzeit kündigen und sich einen neuen Anbieter suchen, auch wenn es gerade kaum günstige gibt. Das bedeutet für die Versorger, dass sie auf längerfristig beschafftem Strom zu aktuell schlechten Konditionen sitzen bleiben könnten.

Spekulation über Millionengeschäft

Das Vorgehen von Stromio und Co. könnte in mehrfacher Hinsicht ein Nachspiel haben. Die gekündigten Kunden sollten auf jeden Fall Widerspruch einlegen, sagt Experte Sieverding: „Sie könnten sogar auf Wiederaufnahme klagen, aber eine Schadensersatzforderung halte ich für aussichtsreicher.“ Tatsächlich sind Stromio und Gas.de, anders als andere Billiganbieter, keineswegs pleite. Ob sie allerdings gerade überhaupt Strom und Gas anbieten könnten, ist auch nicht sicher.

In der Branche munkelt man, dass Stromio mit der Kündigungsaktion ein Millionengeschäft gemacht haben könnte. Selbst wenn der Discount-Anbieter lediglich ein Viertel des für seine bundesweit rund 800.000 Kunden benötigten Stroms langfristig und damit im Vergleich zu heute extrem günstig beschafft hätte, wären dies mehrere hunderttausend Megawattstunden. Über Nacht zu Dezemberhöchstpreisen am Markt verkauft, wäre das ein Gewinn in dreistelliger Millionenhöhe. Frohe Weihnachten. Stromio und Co. könnten abwarten, bis die Preise wieder sinken und dann auf den Markt zurückkehren. Ob dies passiert, ist unklar. Verbraucherexperte Sieverding hält es aber durchaus für möglich, dass sich die Staatsanwaltschaft für den Fall interessieren könnte: „In jedem Fall ist das einseitige Kündigen von Stromio Trickserei.“