Hagen. Innerhalb des Berufsstandes der Physiotherapeuten wird kontrovers diskutiert, ob eine Akademisierung wirklich sinnvoll ist.
Wenn Carmen Erwes Bewerbungen sichtet, ist für sie eins klar: Wer sich in ihrer Praxis für interaktive Physiotherapie in Olpe vorstellt, hat mit einer Ausbildung bessere Karten als mit einem abgeschlossen Studium, sagt die Inhaberin. „Wir üben immerhin einen Handwerksberuf aus.“ Doch die Branche steckt im Zwiespalt.
Denn die Akademisierung des Berufs Physiotherapeut ist in vollem Gange, seit Jahren schon gibt es für Schulabgänger zwei Optionen: Die klassische schulische Ausbildung oder den Bachelorabschluss. Beides führt jedoch ans gleiche Ziel, denn egal, welcher Abschluss gemacht wurde – die Gehälter sind gleich, die Befugnisse ebenso. Die Befürchtung vieler Physiotherapeuten: „Hier bildet sich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft“, sagt Erwes. „Das ist ein Riesenproblem.“
Praxis und Forschung vereinen
Das weiß auch Sabine Hammer. Die Berührungsängste unter den Physiotherapeuten seien groß, weil der gleiche Beruf mit unterschiedlichen Abschlüssen ausgeübt wird. „Einige, die bereits eine Praxis haben, fürchten sich vor einer Dequalifizierung, falls in Zukunft ein Studienabschluss vorausgesetzt werden sollte“, weiß die Dekanin der Therapiewissenschaften an der Hochschule Fresenius, an deren Standort in Köln der Studiengang Physiotherapie bereits angeboten wird.
Dennoch spricht sie sich für eine einheitliche Lösung aus: „Es ist ein in der Medizin angesiedelter Beruf, der in allen EU-Ländern im Studium mit Praxisbezug gelehrt wird.“ Das sollte auch hier so gängig sein, sagt sie. Immerhin seien die Anforderungen an Physiotherapeuten hoch, im Studium würden sie die Praxis und die nötigen medizinischen Kenntnisse in geeignetem Umfang erlernen. „Die Verantwortung ist groß und Gesundheit hat auch eine ethische Relevanz“, sagt Hammer.
Mehr Ansehen in Gesundheitspolitik
Sollte die schulische Ausbildung in Zukunft jedoch ganz wegbrechen, bliebe vielen Schulabgängern ohne Abitur der Beruf des Physiotherapeuten versperrt. Hinzu käme, dass jene, die heute eigene Praxen leiten, meist selbst keinen Bachelor-Grad haben. Und wofür wäre all das gut? Sicher nicht dafür, um die Anerkennung von Patienten zu bekommen, sagt Dirk Schmelter als Geschäftsführer des Physiotherapiezentrums Steffen Barth in Hagen. „Die haben wir.“
Was aber durchaus fehle, sei das angemessene Ansehen im Bereich der Gesundheitspolitik. Das Ziel müsse sein, dass die Patienten nicht erst per Rezept zum Physiotherapeuten geschickt werden, sondern auf direktem Weg zu ihm gehen können – und die Krankenkassen das auch bezahlen, sagt Schmelter.
Allerdings stellten sich bislang vor allem viele Ärzte dagegen, sagen die Physiotherapeuten: Immerhin würden ihnen dann Geldeinnahmen wegbrechen. Deshalb sei es schon wichtig, dass der Beruf noch wissenschaftlicher werde als er es bereits ist – um den Argumenten der Ärzte und Kammern etwas entgegenstellen zu können.
Dass die Akademisierung die Lösung des Problems sein könnte, das sieht Dirk Schmelter aber nicht: Nicht alles könne mit Wissenschaft allein begründet werden. „Und ein guter Therapeut lebt auch von seiner Empathie gegenüber den Patienten und Leidenschaft für den Beruf. Welchen Weg er dafür gegangen ist, ist dann letztlich egal.“
Die Ausbildung verbessern
Eine längere Ausbildungsdauer von vier statt drei Jahren und eine Kombination aus Schule, Praxis und Wissenschaft an den Hochschulen sei womöglich eine gute Option, sagt Marco Baurdoux. „Mit der Voraussetzung, dass man das für alle anbietet“, betont der Schulleiter der Physiotherapieschule in Siegen. So wie es jetzt ist, sollte es nicht weitergehen, findet er. „Auch wenn an den Hochschulen Praxis gelehrt wird, ist der Schwerpunkt nicht so groß wie in der Ausbildung – und wir schießen uns in den eigenen Fuß, wenn den Abgängern diese Praxiserfahrung später fehlt.“
Abiturient geht Ausbildungsweg
Nick Menzel jedenfalls würde sich immer wieder für seinen Weg entscheiden, sagt der 22-Jährige. Als angehender Physiotherapeut wolle er so viel Praxiserfahrung sammeln wie möglich – und habe sich nach seinem Abitur deshalb für den Ausbildungsweg und gegen den Bachelorabschluss an einer Fachhochschule entschieden. Vorerst zumindest. Denn Physiotherapeut zu sein, das habe etwas mit Vertrauen und Menschennähe zu tun, sagt er. „Das lernt man in der Ausbildung einfach noch besser als an einer Uni.“
Er selbst ist gerade im zweiten Jahr an der Schule in Siegen, macht bald sein erstes Praktikum. „Wir haben zuvor ein Jahr lang das theoretische Fundament gelegt“, erzählt der 22-Jährige. Räumt aber ein: „Es wäre schon gut, wenn die Ausbildungsmöglichkeiten verallgemeinert werden“, sagt er. Immerhin hätten Fachhochschulen meist bessere Möglichkeiten, an aktuelle Studien zu kommen – „verbunden mit unserer Menge an Praxis wäre das sicher positiv.“
Verdienst liegt unter dem mittleren Durchschnitt
Im Schnitt verdienen Physiotherapeuten 2.300 bis 2.400 Euro brutto im Monat, sagt Sabine Hammer von der Hochschule Fresenius. Damit lägen sie deutlich unter dem durchschnittlichen mittleren Verdienst in Deutschland. „Das ist zu wenig“, sagt sie, und glaubt, dass Therapeuten langfristig nicht weiterkommen, wenn das Ausbildungssystem so bestehen bleibe. Jungen Leuten ohne Abitur den Beruf zu verwehren, sei aber keine Lösung, appellieren Physiotherapeuten.