Essen. Thyssenkrupp will Daten nutzen, um beim Stahltransport Leerfahrten mit Lkw zu vermeiden. Dabei spielen Start-ups eine wachsende Rolle.

Thyssenkrupp Materials Services bezeichnet sich selbst als den größten Werkstoffhändler der westlichen Welt. Der Essener Konzern beliefert 250.000 Kunden in 40 Ländern mit 150.000 unterschiedlichen Produkten aus Stahl, Edelstahl und Kunststoff. Im Bereichsvorstand ist Ilse Henne (48) für die digitale Transformation verantwortlich. Im WAZ-Interview erklärt sie, wie Thyssenkrupp Lieferketten durch den Einsatz von Daten grüner machen will und welche Chancen dabei Start-ups haben.

Frau Henne, Thyssenkrupp will mit dem Einsatz von Daten Lieferketten grüner machen. Ist Materials Services auf dem Weg zu einem Softwareunternehmen?

http://Wie_Thyssenkrupp_von_Amazon_und_Ebay_lernen_will{esc#232061003}[news]Ilse Henne (lacht): Wir sind natürlich nicht das nächste Microsoft oder SAP. Thyssenkrupp Materials Services ist aber auf dem Weg, ein digitales Unternehmen zu werden und seinen Kunden digitale Lösungen anzubieten. Wir sind getrieben von dem Glauben, dass mit der Digitalisierung von Logistik Daten unsere Tonnen ersetzen. Das heißt, wir wollen den Wareneinsatz durch eine bessere Datenauswertung und -nutzung deutlich effizienter gestalten.

Warum sind denn Daten so wichtig, wenn Sie einen Autozulieferer mit Edelstahlrohren beliefern?

Henne: Unser Ziel ist es, dass der Produzent von vornherein versteht, was der Anwender, also unser Kunde, wünscht. Bislang ist diese Lieferkette noch sehr intransparent, was zu Verschwendung von Werkstoffen und Ineffizienz in Prozessen führt. Dagegen setzen wir unsere Strategie „Materials as a Service“. Es kommt darauf an, das richtige Material in der richtigen Menge zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu bringen. Um das zu erreichen, sind viele Zwischenschritte nötig. Die vielen Informationen, die wir haben, wollen wir noch besser nutzen.

Ilse Henne ist im Vorstand von Thyssenkrupp Materials Services für die digitale Transformation verantwortlich.
Ilse Henne ist im Vorstand von Thyssenkrupp Materials Services für die digitale Transformation verantwortlich. © Thyssenkrupp Materials Services GmbH | Thyssenkrupp Materials Services GmbH

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Sind Ihre Zulieferer und Kunden denn überhaupt bereit, ihre Daten zur Verfügung zu stellen?

Henne: In Gesprächen mit unseren Kunden versuchen wir immer herauszufinden, wo ihr größter Schmerz steckt und wie wir ihn gemeinsam beseitigen können. Statt eines leeren Lagers und der Not am Spotmarkt kurzfristig sehr viel teurere Stahlkomponenten zu kaufen, bieten wir intelligente Bestandsmanagementlösungen an. Dann sind sie sofort bereit, mit uns zusammenzuarbeiten. Beispiel Logistik: Wenn wir die Millionen Daten, über die wir selbst verfügen, mit denen der Hersteller und Kunden und Vorhersagen über das Wetter und die Verkehrslage auf der Grundlage unserer Künstlichen Intelligenz „alfred“ miteinander verknüpfen, entsteht eine völlig neue Transparenz. Das schafft mehr Wert für alle Beteiligten.

Ist CO2 die größte Stellschraube, um Lieferketten grüner zu machen?

Henne: Beim Transport können wir in der Tat nur CO2 vermeiden. Im Lkw entstehen nach Angaben der Europäischen Kommission 76 Gramm pro Tonne Stahl und Kilometer. Im Güterzug sind es nur 14 Gramm und auf dem Schiff zwölf Gramm. Kohlendioxid können wir vor allem einsparen, wenn wir Leerfahrten vermeiden. In Europa aber sind 40 Prozent der Lkw-Touren leer, in China sogar 60 Prozent. Das ist der größte Hebel.

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Wie wollen Sie Leerfahrten vermeiden?

Henne: Wir müssen unser Standort- und Partner-Netzwerk so aufstellen, dass wir eine möglichst kurze letzte Meile haben, die wir mit dem Lkw zum Kunden zurücklegen. Natürlich haben nicht alle Unternehmen einen Wasser- oder Schienenanschluss. Produkte, die von China nach Europa kommen, haben ja bereits einen 22.000 Kilometer langen Weg hinter sich. Lieferketten werden vor allem grüner, wenn wir den Anteil am Straßenverkehr vermindern. Leerfahrten lassen sich eher vermeiden, wenn wir mit Speditionen, die auch in unserem Auftrag fahren, schneller Daten austauschen. Dort, wo wir Material transportieren, drehen wir an allen Stellschrauben, um Emissionen zu senken.

Glauben Sie, dass das neue Lieferkettengesetz dem Bemühen nach mehr Nachhaltigkeit einen weiteren Schub versetzen wird?

Henne: Der gesellschaftliche Druck nach nachhaltigen Prozessen steigt. Wir begrüßen, dass es jetzt klare Standards gibt, die eingehalten werden müssen. Zugleich sehen wir die Gefahr, dass das Lieferkettengesetz zu einem großen bürokratischen Aufwand führt. Davor warnen wir.

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Sind grüne Lieferketten auch ein Betätigungsfeld für Start-ups?

Henne: Wir lieben sogenannte Company-Building-Formate, bei denen wir gemeinsam mit Start-ups an bestimmten Lösungen arbeiten. Während der Corona-Krise mussten gemeinsam von Unternehmen und Start-ups durchgeführte Veranstaltungen wie zum Beispiel Beyond Conventions und Hackathons leider ausfallen. Wir können uns bei Thyssenkrupp Materials Services durchaus vorstellen, in Start-ups einzusteigen oder kleinere Unternehmensteile gemeinsam mit Start-ups abzuspalten.

Ihr Vorstandskollege Daniel Wodera, der das Finanzressort bei Thyssenkrupp Materials leitet, gehört zu Speakern beim Ruhrsummit in Bochum. Was erwartet Ihr Unternehmen von dem Gründerkongress?

Henne: Der Ruhrsummit ist eine interessante Gelegenheit, Start-ups mit etablierten Unternehmen zusammenzubringen. Thyssenkrupp Materials bringt für digitale Lösungen Millionen Daten und weltweit 250.000 Kunden mit. Das ist hochspannend für Start-ups. Es passt perfekt, dass der Mann, der unsere IT verantwortet und die Geldbörse verwaltet, beim Ruhrsummit spricht.

Gehört es inzwischen zur Unternehmenskultur von Thyssenkrupp, auf junge Ideen von Start-ups zurückzugreifen?

Henne: Ich halte das für sehr wichtig. Und auch unserer Vorstandsvorsitzenden Martina Merz liegt das sehr am Herzen. Sie glaubt fest daran, dass wir uns gegenseitig befruchten können. Das gilt aber auch für die Nachwuchskräfte im eigenen Unternehmen. Ich trete dafür ein, ihnen mehr Freiheiten, aber keinen Freibrief zu geben.

Frau Henne, gestatten Sie eine persönliche Frage. Was hat Sie als Sprach- und Literaturwissenschaftlerin zum Werkstoffhandel gebracht?

Henne: Das ist in der Tat ein ganz ungewöhnlicher Weg. Latein, Französisch und Spanisch haben mich schon immer mehr begeistert als Mathematik oder Naturwissenschaften. Als mir bei meinem Studium im Rahmen des Erasmus-Förderprogramms in Madrid das Geld ausging, kam ich nach Hause in Belgien zurück. Da suchte gerade eine kleine Stahlhandelsfirma eine Einkäuferin, die Französisch und Spanisch spricht. Sie haben mich genommen. Seither ist Stahl für mich so etwas wie eine Sucht, von der ich nicht mehr loskomme.

>>> Zur Person: Ilse Henne

Ilse Henne ist gebürtige Belgierin und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Gent.

Die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin kam 1999 zu Thyssenkrupp und startete ihre Karriere bei der belgischen Tochter Christon.

Seit 2019 ist Ilse Henne Mitglied des Bereichsvorstands des Segments Thyssenkrupp Materials Services mit einem Umsatz von zuletzt 11,3 Milliarden Euro Umsatz und rund 18.800 Mitarbeitern.