Hagen. Seit 1. Mai gilt wieder die Insolvenzantragspflicht. Dennoch erwarten Ökonomen von nicht sofort eine sichtbare Pleitewelle.

Wegen erwarteter wirtschaftlicher Folgen der Corona-Pandemie hatte die Politik ein Schutzschild aufgebaut, um unverschuldet in Finanznot geratene Unternehmen vor dem Gang zum Insolvenzgericht zu bewahren. Normalerweise müssen Unternehmen innerhalb von drei Wochen beim Amtsgericht anzeigen, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, Rechnungen zu begleichen, also zahlungsunfähig sind. Diese Pflicht wurde bis Ende April ausgesetzt. Seit dem 1. Mai gilt diese Aufhebung der Insolvenzantragpflicht bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr. Ob nun der Wirtschaft ein „Pleite-Tsunami“ droht, erläutern die Experten Patrik-Ludwig Hantzsch von Creditreform und Klaus-Heiner Röhl vom Institut der Wirtschaft (IW).

Wird es in den kommenden Tagen Schlangen vor Gerichten geben?

Dr. Klaus-Heiner Röhl vom Kölner IW-Institut rechnet damit, dass viele kleine Restaurants und Händler gar nicht mehr öffnen werden.
Dr. Klaus-Heiner Röhl vom Kölner IW-Institut rechnet damit, dass viele kleine Restaurants und Händler gar nicht mehr öffnen werden. © Handout | Handout/iwkoeln

Klaus-Heiner Röhl (IW): Eher nicht. Die Auswirkungen der Aufhebung der Insolvenzantragpflicht wurden wahrscheinlich überschätzt. Es gibt dazu internationale Vergleiche. In Ländern mit und ohne Pflicht sind die Insolvenzanmeldungen in der Pandemie zurückgegangen.

Patrik-Ludwig Hantzsch (Creditreform): Es wird nicht zu einer Welle kommen, weil viel Kapital im Markt ist. Die Unternehmen können ihre Rechnungen bezahlen. Sie bezahlen sie sogar pünktlicher als vor einem Jahr. Das können wir sehen.

Klingt überraschend.

Patrik-Ludwig Hantzsch: Es ist das sichere Zeichen, dass die staatlichen Hilfen ankommen.

Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) spricht davon, dass ein Viertel bis ein Drittel der Betrieb an Aufgabe denkt. Wie passt das zusammen mit Ihren Einschätzungen?

Patrik-Ludwig Hantzsch: Es wird keine akute Insolvenzwelle geben. Im Moment sehen wir bei Creditreform eher Stagnation oder sogar rückläufige Zahlen bei den Meldungen. Stand heute bis wahrscheinlich zur Bundestagswahl werden wir keinen erheblichen Anstieg der Insolvenzen sehen. Aber viele Kleinere werden still aus dem Markt ausscheiden.

Die Experten

Patrik-Ludwig Hantzsch ist Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform. Das Unternehmen analysiert kontinuierlich u.a. die Zahlungsfähigkeit von Betrieben.

Dr. Klaus-Heiner Röhl ist Volkswirt, seit 2002 beim IW und Experte für Insolvenzen.

Klaus-Heiner Röhl: Die große Gefahr ist, dass kleine Restaurants und kleinere Händler in deutlich sichtbarem Maße aufgeben werden. Bundesweit rechnen wir mit 500.000 bis 800.000 gefährdeten Unternehmen. Das wird vor allem die Städte betreffen.

Patrik-Ludwig Hantzsch:Es gibt hier innerhalb der Branchen große Unterschiede. Beispiel Handel: Stationärer Textileinzelhandel leidet gerade massiv, wie wir wissen. Hier gibt es unter anderem das Problem mit der Saisonware. Aber Pandemiemaßnahmen und dadurch eingeschränkte Einnahmemöglichkeiten wegen der Lockdowns sind nur das Eine. In der Pandemie hat sich das Konsumverhalten noch einmal verändert. Der Onlinehandel hat sich weiter etabliert. Der stationäre Textileinzelhandel wird also auch in Post-Corona-Zeiten weiter leiden – und verlieren! Ähnliches gilt im Hotel- und Gaststättengewerbe.

Inwiefern?

Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter Wirtschaftsforschung bei Creditreform, glaubt, dass Hotels und Gaststätten in touristischen Regionen wie dem Sauerland im Sommer wieder ihr Geschäft machen werden: „Aber Business-Hotels sind quasi tot.“
Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter Wirtschaftsforschung bei Creditreform, glaubt, dass Hotels und Gaststätten in touristischen Regionen wie dem Sauerland im Sommer wieder ihr Geschäft machen werden: „Aber Business-Hotels sind quasi tot.“ © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Patrik-Ludwig Hantzsch: Um die Betriebe in touristischen Regionen mache ich mir keine Sorgen. Wir haben bald Sommer und wie vergangenes Jahr werden sie ihr Geschäft machen. Dagegen sind Businesshotels in Metropolen quasi tot.

Wieso?

Patrik-Ludwig Hantzsch: Die Unternehmen haben in der Corona-Krise gelernt, dass viele Reisen und Treffen nicht mehr nötig. sind. Die Leute haben die Vorteile von Zoom und Co. erkannt. Es werden auf jeden Fall hybride Formate bleiben.

Was bedeutet das?

Patrik-Ludwig Hantzsch: Die Innenstädte werden sich ganz sicher verändern. Erstens haben wir das veränderte Nutzungsverhalten, das für weniger Büroflächen und eben Businesshotels sorgen wird. Zweitens gibt es im Zuge der Klimadebatte den Megatrend, Individualverkehr aus den Städten zu verdrängen. Das wird je nach neuer Bundesregierung unterschiedlich ausgeprägt sein. In jedem Fall wird es die Einkaufsmeilen verändern. Wir werden mehr Showrooms und subventionierten Wohnraum sehen. Das geht alles zu Lasten des Einzelhandels. Und das wird sehr schnell gehen. Die Tagestouristen werden nicht mit dem ÖPNV zur „Kö“ in Düsseldorf kommen und mit Tüten beladen wieder nach Hause fahren.

Aktuell werden wir also viel weniger Auswirkungen sehen als wir noch vor einigen Wochen gedacht haben?

Klaus-Heiner Röhl: Wir werden schon direkt Auswirkungen der Pandemie sehen. Wer nach dem Lockdown wieder öffnet, wird wahrscheinlich auch überleben. Die anderen werden nicht unbedingt Insolvenz anmelden, weil sie es zum Teil nicht müssen. Aber sie werden gar nicht mehr öffnen.