Gelsenkirchen. Die Start-ups im Ruhrgebiet sind dank digitaler Geschäftsideen gut durch die Krise gekommen. Kritik gibt an der Förderung des Bundes.
Markus Hertlein mag es nicht gern, wenn sein Gelsenkirchener Start-up Xignsys als „Profiteur der Corona-Krise“ bezeichnet wird. Das 30-köpfige Team um den Gründer Markus Hertlein hat die Zeit des Shutdowns genutzt, um eine App zu entwickeln, die Kommunen bei der Bewältigung von Anfragen zu Covid-19-Tests helfen soll. Bislang sind die Start-ups des Ruhrgebiets ohne größere Blessuren durch die Krise gekommen.
„Flat Curve“ (flache Ansteckungskurve) heißt die App, die Verbrauchern und Verwaltung gleichermaßen Vorteile bringen soll. „Darüber geben die Bürger eine Selbsteinschätzung über ihre Krankheitssymptome ab. So kann die Stadt eine Vorauswahl treffen, wie dringlich die Covid-19-Beratung ist“, sagt Hertlein. „Feuerwehrleute oder Beschäftigte im medizinischen Bereich können automatisch eine höhere Priorität erhalten. In einem normalen Wartezimmer ist das kaum möglich.“
Auch interessant
Im Rhein-Kreis-Neuss, der „digital hoch innovativ“ sei, wie der Xignsys-Chef betont, ist „Flat Curve“ bereits zu Testzwecken im Einsatz. „Wir sind aber auch mit der Stadt Gelsenkirchen im Gespräch“, unterstreicht Hertlein. Hier hatte er im Jahr 2016 das Start-up gegründet und mit seiner Mannschaft im Juni neue Räume bezogen. Das junge Unternehmen entwickelt vor allem Sicherheitslösungen für die wachsende Zahl von Dienstleistungen, die öffentliche Verwaltungen Bürgern und Unternehmen via Internet anbieten.
Insofern traf die Corona-Pandemie auch die Gelsenkirchener. „Wir haben am meisten darunter gelitten, dass wir die Werbetour für unsere Produkte bei Bürgermeistern und Rechenzentren nicht fortsetzen konnten. In der Krise konnten wir unsere Ansprechpartner nicht treffen“, sagt Hertlein.
Eine Folge des Shutdowns, unter der offenbar zahlreiche junge Firmen zu leiden hatten. „Das größte Problem war, den Kontakt zu den potenziellen Kunden herzustellen. Weil es keine Messen gibt, kommen auch keine zufälligen Begegnungen zustande“, sagt Oliver Weimann. Als Geschäftsführer des Ruhr-Hub, der die Start-up-Aktivitäten in den Städten Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen und Mülheim koordiniert, hat er den Überblick über mehrere Dutzend junge Firmen, die gerade im Ruhrgebiet aktiv sind.
Weimann ist davon überzeugt, dass die meisten von ihnen gut durch die Krise gekommen sind. „Einige Start-ups haben von der Krise profitiert, bislang mussten nur wenige die Segel streichen“, sagt er. Die Erfahrungen, die Xignsys machten, gelten nach seiner Einschätzung auch für Wettbewerber. „Man kann nur auf Netzwerke zurückgreifen, die es schon vor der Corona-Krise gab. Neue zu knüpfen, ist jetzt sehr schwierig.“
Auch interessant
Der Hub-Geschäftsführer ist davon überzeugt, dass Corona das zuletzt im Ruhrgebiet auf Touren gekommene Gründungsklima nicht beeinträchtigen werde. „Die Zahl der Beratungstermine von Start-ups an den Unis, bei den Wirtschaftsförderern und Kammern ist in der Krise nicht zurückgegangen“, sagt Weimann. „Deshalb glaube ich, dass der Gründergeist nicht unter der Krise gelitten hat. Wir haben kein Corona-Mentalitätsproblem. Trotzdem wagen immer noch zu wenige junge Menschen den Schritt in die Selbstständigkeit.“
Zumal junge Firmen vor allem Liquidität benötigten. „Die kurzfristigen Hilfen sind angekommen. Die erste und zweite Säule der Bundesfinanzierung für Start-ups verzögert sich jedoch“, kritisiert Weimann. Darunter leidet auch die Düsseldorfer Firma VP Venue Planner. Sie hat eine Software entwickelt, die Großveranstaltungen digital plant und für alle teilnehmenden Akteure einsehbar ist. Die Technik kam bereits beim Radrennen Tour de France zum Einsatz, Kunden sind auch mehrere Fußballclubs. Doch mit Corona kam das vorläufige Ende für Mega-Events. „Wir konnten beim Restart der Fußball-Bundesliga mithelfen. Das gibt uns Hoffnung“, sagt Mitgründer Rainer Schüler.
Auch interessant
Bei den öffentlichen Corona-Hilfen fiel die Firma VP allerdings durch. „Es ist sehr ärgerlich, dass Fördergeld nicht bei uns ankommt“, kritisiert Schüler. 2018 und 2019 hatte die junge Firma allein in die Programmierung investiert und deshalb keine Umsätze generiert. „Deshalb übernehmen die Hausbanken wegen des fehlenden Vergleichswerts nicht einmal das Restrisiko von zehn Prozent der Bürgschaft. 90 Prozent des Risikos bei der Kreditvergabe würden von den Förderbanken getragen. Dabei wollten wir uns nur für einen vergleichsweise kleinen Betrag von 200.000 Euro bewerben, um weiterhin überleben zu können.“
>>> Warten auf Fördergelder
Die Bundesregierung hatte auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie Ende März angekündigt, Start-ups mit zwei Milliarden Euro zu stützen. Die Umsetzung ließ aber auf sich warten. Seit Mitte Mai können Investoren bei der Förderbank KfW Capital eine Kofinanzierung beantragen. Acht Fondsgesellschaften haben davon Gebrauch gemacht.
Die zweite Säule, von der Start-ups direkt profitieren sollen, steht aber immer noch nicht. In Nordrhein-Westfalen ist für die Verteilung der Fördergelder die NRW-Bank zuständig. Gründer sollen bis zu 800.000 Euro Fördergeld erhalten. Die NRW-Bank hat nach eigenen Angaben bereits 15 Anträge aus dem Programm „Start-up akut“ zugesagt, rund 60 seien in Bearbeitung.