Essen. Dürfen wir die Schutzmaßnahmen lockern und Menschen gefährden, um den Wohlstand zu retten? Suche nach einem Ausweg aus der Corona-Zwickmühle.

Jede Krise birgt auch Chancen, lautet eine der penetrantesten Durchhaltefloskeln. Hoffnung ist eine starke Antriebsfeder – kein Motivationscoach und kein Selbstfindungs-Guru lässt die Lebensweisheit aus, man solle aus Krisen lernen, um gestärkt aus ihnen hervorzugehen. Nach der Corona-Pandemie werden auch Politik und Wirtschaft sich fragen, was dieses Virus sie gelehrt hat. Wo man falsch reagiert hat, wo richtig, aber vielleicht nicht entschieden genug. Aber dieser Punkt ist noch fern, momentan eskaliert stattdessen die Debatte über die ökonomischen Verwerfungen der Schutzmaßnahmen.

Monat eins im Krisenmodus ist vorbei. Und schon nach drei Wochen geschlossener Geschäfte ist die Gesellschaft angekommen an der existenziellsten aller Fragen: Dürfen Menschenleben aufs Spiel gesetzt werden, um unseren Wohlstand zu retten? Am ersten Tag, nach dem die Politik das Land heruntergefahren hat, wurde bereits gefragt, wie lange sie das durchhalten könne. Der Ruf nach Lockerung bis Aufhebung der Anti-Corona-Maßnahmen wird mit jedem Tag lauter. Dies, obwohl die Zahlen der Infektionen und Todesopfer nach wie vor steigen. Die Argumente von Medizin-Ethikern und Wirtschafts-Ethikern prallen aufeinander. Es ist eine Debatte, die weh tut, die aber geführt werden muss.

Die Corona-Krise – Zeit der Egoisten?

Sie wird auch im Kleinen geführt, manchmal sicher unbewusst, im so anders gewordenen Alltag der Menschen. Sie haben in den vergangenen Wochen bereits viel über sich, ihre Arbeitgeber und ihre Politiker gelernt. Krisen fördern das Beste im Menschen zu Tage, sie wecken Gemeinschaftsgefühle und schweißen die Gesellschaft zusammen. Oder sie wecken den Menschenfeind in Dir, den Egoisten und spalten die Gesellschaft. Für jede dieser These finden sich dieser Tage reichlich Beispiele – im bürgerlichen Alltag wie im Wirtschaftsleben.

Corona Virus in Dortmund: Zwei Nachbarinnen helfen sich gegenseitig mit dem offenbar Nötigsten aus – Toilettenpapier.
Corona Virus in Dortmund: Zwei Nachbarinnen helfen sich gegenseitig mit dem offenbar Nötigsten aus – Toilettenpapier. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

In bisher anonymen Mietshäusern wachsen plötzlich Nachbarschaftshilfen, auf dem Gehweg bedanken sich Fremde, wenn man sein Kind zur Seite nimmt, um Abstand zu wahren, Bierbrauer produzieren Desinfektionsmittel und Konzerne spenden Geld, Schutzkleidung und Medikamente. Gleichzeitig horten Kleingeister Klopapier, das sie über Ebay zu Wucherpreisen weiter verkaufen, zapfen im Krankenhaus Desinfektionsmittel in Wasserflaschen ab oder horten Mehl, obwohl sie noch nie Brot gebacken haben. Und nicht wenige Unternehmen versuchen die Krise für sich zu nutzen – mit höheren Preisen für gefragte Waren, überzogenen Forderungen oder dem Erschleichen von Soforthilfen, die andere nötiger hätten.

Das einzige, was fast überall funktioniert, ist das kollektive Wohlverhalten, wenn es unter sozialer Kontrolle steht, im Supermarkt etwa oder im Park. Dass die Allermeisten Rücksicht nehmen, Regeln und Abstand einhalten, ist die Grundvoraussetzung für die Eindämmung des Corona-Virus. Doch diese Art der Schwarmvernunft ist vergänglich, Ungeduld und Lagerkoller wachsen – und damit auch die Konfliktpotenziale bis hin zu häuslicher Gewalt.

Wann und wie wagt Deutschland den Exit?

Noch viel schwerer wiegen in der sich aufschaukelnden Debatte über das Wann und Wie von Exitstrategien die Gefahren für Wirtschaft, Arbeitsplätze und damit den Wohlstand. Die Beteuerungen der Politik, kein Unternehmen solle wegen Corona pleite gehen und niemand seinen Arbeitsplatz verlieren, sind schon jetzt Makulatur. Die Rettungsschirme werden viele kleine und große Unternehmen nicht retten können und damit auch nicht die Arbeitsplätze. Je länger der Shutdown dauert, umso mehr Firmen und Beschäftigte trifft es.

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Wenn das halbe Land kurzarbeitet, also mit deutlich weniger Geld auskommen muss, drückt das den Konsum. Der stationäre Handel leidet doppelt: Ihm fehlen jetzt die Einnahmen und er verliert gleichzeitig Kunden an die Riesen im Onlinehandel. Was bedeutet, dass stationäre Elektronikhändler und Modeläden nicht darauf hoffen dürfen, dass die Leute ihre Beschaffungen einfach bis nach der Krise verschieben. Die Gastronomen schon gar nicht. Auf diese Nachholeffekte setzen dagegen die Industrie, der Bau und das Handwerk.

Beispiel Karstadt: Staatshilfe passt nicht für jeden

Geschlossene Geschäfte überall, hier in Gladbeck. Das Wirtschaftsleben steht weitgehend still, nicht alle werden das überleben.
Geschlossene Geschäfte überall, hier in Gladbeck. Das Wirtschaftsleben steht weitgehend still, nicht alle werden das überleben. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Trotzdem gilt in allen Branchen: Wem es schon vor Beginn der Krise nicht so gut ging, den droht sie nun in die Knie zu zwingen. Das zeigt sich aktuell am Warenhauskonzern Karstadt, der unter den staatlichen Rettungsschirm wollte, dessen Banken aber selbst das geringe Restrisiko scheuten, das die Staatsbank KfW bei ihnen lässt. Einziger Ausweg war der Gang zum Amtsgericht und der Schutzschirm des Insolvenzrechts, um sich dem Zugriff der Gläubiger zu entziehen.

All diese Verwerfungen muss die Politik bedenken und zu mindern versuchen. Auf der anderen Seite geht es darum, die mutmaßlich tödlichen Folgen einer zu frühen Lockerung der Maßnahmen nicht kleinzureden. Genau an diesem Punkt wird es aber unangenehm. Gut zu beobachten in der harschen Reaktion des Ethikverbands der deutschen Wirtschaft auf Äußerungen von Finanzminister Olaf Scholz (SPD). Der hatte der Bild am Sonntag gesagt: „Ich wende mich gegen jede dieser zynischen Erwägungen, dass man den Tod von Menschen in Kauf nehmen muss, damit die Wirtschaft läuft.“ Der Ethikverband verurteilte das als „moralisierendes Totschlagsargument“.

Ethikverband attackiert Finanzminister Scholz

Scholz tue das nur, um die Entscheidungen der Regierung zu rechtfertigen, klagten die Wirtschaftsethiker. So wie Ärzte entscheiden müssten, welchen der Corona-Patienten sie ans Beatmungsgerät anschlössen, komme im Zweifel auch die Politik ab einem gewissen Punkt nicht mehr umhin, das eine gegen das andere Übel abzuwiegen. Den Ärzten helfe das Mantra, Menschenleben dürften nicht gegeneinander verrechnet werden, jedenfalls nicht.

US-Präsident Donald Trump will die Corona-Beschränkungen so schnell wie möglich wieder zurücknehmen.
US-Präsident Donald Trump will die Corona-Beschränkungen so schnell wie möglich wieder zurücknehmen. © AFP | MANDEL NGAN

Was der Ethikverband unterschlug, war freilich das Diskussionsumfeld: Scholz bezog Stellung, als die Debatte in den USA eskalierte. Trump gab die Richtung vor: Ein langer Stillstand der Wirtschaft würde zu mehr Toten führen als das Coronavirus, meint er zu wissen. Und will deshalb die Beschränkungen so schnell wie möglich wieder aufheben. Das nahm der republikanische Vize-Gouverneur von Texas, Dan Patrick, als Vorlage für eine noch steilere These: Man müsse diskutieren, ob nicht die älteren Bürger bereit seien, sich zu opfern. Er jedenfalls sei bereit, sein Leben für seine sechs Enkel und die amerikanische Wirtschaft zu riskieren, sagte der 69-Jährige. Das zynisch zu nennen, sollte wohl erlaubt sein.

Weder aktionistisch noch moralisierend sind derzeit Deutschlands führende Ökonomen unterwegs. Die Wirtschaftsweisen haben drei Szenarien entworfen für die jeweilige Dauer der Einschränkungen. Dass sie sich das mildeste wünschen, versteht sich von selbst, aber die Weisen verzichteten bewusst darauf, die Rezession gegen die durch den Shutdown zu rettenden Menschenleben aufzurechnen. Vielmehr betonte der Chefwirtschaftsweise Lars Feld in einem Fernsehinterview, die Wirtschaft profitiere ja auch von jedem geretteten Menschen, weil sie jede Arbeitskraft und jeden Konsumenten brauche. Den Zielkonflikt „Leben oder Wirtschaft retten“ gebe es in dieser Eindimensionalität gar nicht.

Warum Ökonomen nach Südkorea blicken

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Schon gar nicht, wenn sich die Rückkehr zur Normalität sogar mit der Eindämmung des Virus verbinden ließe. Genau das ist das Anliegen von Felds Vorgänger als Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph M. Schmidt. Der Präsident des Essener RWI Leibniz-Instituts hat vorgeschlagen, es den Südkoreanern nachzumachen. Sie haben sehr früh sehr viel getestet und die Infizierten samt großzügig ausgelegter Kontaktpersonengruppen in strikte Quarantäne geschickt. Bisher mit großem Erfolg: Die Restaurants haben geöffnet, das Leben geht weiter, doch das Virus breitet sich kaum noch aus.

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Das Vorbild aus Asien ist im Berliner Regierungsviertel angekommen, allein was fehlt, sind die Voraussetzungen: Genügend Testkapazitäten und die lückenlose Rückverfolgung der Kontakte von Infizierten per Handy – unter Aussetzung des Datenschutzes. Sich in diesem Monat auf diese Details zu konzentrieren, könnte zugleich den Ausweg aus der moralischen Zwickmühle weisen. „Geld oder Leben“ – dieser Spruch darf gerne schlechten Filmen vorbehalten bleiben.