Essen. Die Schließung der Schulen und Kitas war der Startschuss für Panikkäufe. Was der Samstagseinkauf beim Edeka über unser Krisenverhalten aussagt.

Wird eine Schlange zu lang, hallt sonst „Frau Bäumer, bitte Kasse 3“ durch den Supermarkt. An diesem Samstagmorgen nicht. Heute sind alle sechs Kassen geöffnet, das gab es selbst vor Heiligabend nicht. Und alle sechs Kassen haben lange Schlangen, die sich ungewöhnlich langsam bewegen. Denn aus jedem Wagen werden Stapel von H-Milch, Tiefkühlwaren und Konserven aufs Band gelegt. Fielen Kunden mit brusthoch voll gepackten Einkaufswagen letzte Woche noch auf und wurden für ihre Hamsterkäufe belächelt, ist nun jeder froh, auch seinen Wagen noch gut gefüllt zu haben.

Mit Verkündung der landesweiten Schul- und Kitaschließungen am Freitagnachmittag haben die Panikkäufe erst so richtig begonnen. Und sie sagen viel aus über die menschliche Seele im Allgemeinen und die deutsche im Besonderen. Darüber, was und wer einem wichtig ist. Über unser Sozialverhalten in der Krise und natürlich Urängste, die in jedem Gebiet grassieren, das besonders vom Coronavirus infiziert ist.

„Bitte keine Bilder von leeren Regalen“

Niemand hier hat offenbar gelesen, was die Bundesregierung zu verbreiten versucht hat: Es gebe keine Versorgungsengpässe, Hamsterkäufe seien unnötig. „Bitte verbreiten Sie keine Bilder von leeren Klopapier-Regalen, das schürt unnötig Panik“, heißt die Berliner Botschaft auf Twitter. Fake-News über weitere massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch die Bundesregierung oder eine höhere Anfälligkeit für Corona durch Ibuprofen verbreiten sich offenbar besser.

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Nun ja, die Klopapierregale in diesem Edeka-Markt sind: leer. Also fast leer, der Marktleiter hat die letzten Küchenrollen als offenbar adäquatesten Ersatz dort drapiert. Die gleichgültigen Mienen der meisten Kloregal-Passanten zeugen aber weniger von Panik als davon, dass sie sich längst eingedeckt haben. Wer hätte gedacht, dass der Deutschen größte Sorge in diesen Corona-Zeiten der mehrlagigen Säuberung gilt. Da sind die Japaner mit ihren Dusch-Toiletten klar im Vorteil. Sanitärfachmärkte sollten schon mal ihr Sortiment überdenken.

Rentnerin greift zu Dosenobst, Teenie zu Ravioli

Britischer Humor ist zuweilen geschmacklos – so wie diese Spielautomaten mit Greifarm in Bidefort: Statt Teddybären können hier Klorollen und Desinfesktionsmittel gewonnen werden.
Britischer Humor ist zuweilen geschmacklos – so wie diese Spielautomaten mit Greifarm in Bidefort: Statt Teddybären können hier Klorollen und Desinfesktionsmittel gewonnen werden. © dpa | Rob Braddick

Wie die Gesichter reden. In den Gängen quetschen sich Teenies und Mittzwanziger an Rentnern vorbei, quietschen belustigt, als sie die leeren Regale sehen. Augen und Mundwinkel der älteren Dame, die nicht viel in den Korb ihres Gehwagens packen kann, erzählt Geschichten aus ihrer ganz fernen Vergangenheit. Sie greift im Konservenregal zu, vor dem auffällig viele Senioren stehen und kein einziger Jüngerer. Jedenfalls nicht hier bei den Schnittbohnen und gezuckerten Dosenfrüchten. Die Teenies greifen bei den Ravioli zu.

Hektisch sind die Leute nicht, sie lassen sich stattdessen viel mehr Zeit als sonst, erkunden Regale, die sie noch nie beachtet hatten, schauen, was sie vielleicht noch alles gebrauchen können. Oder könnten. Tiefkühlerbsen gibt es nur noch auf den Schildern vor den leeren Fächern. Ebenso gefrorenen Brokkoli, Spinat und Kaisergemüse. Was der Deutsche noch für den Katastrophenfall gehortet, also vergriffen hat: Haferflocken, Reis und natürlich Katzenstreu – analog zum Klopapier fürs Herrchen.

Drängeln und Zwiegespräche unerwünscht

Eine Frau mittleren Alters bewegt sich wachen Blickes mit ihrem Wagen bewusst vorsichtig, achtet darauf, niemandem zu nahe zu kommen. Der gut gebaute Herr, der an ihrem Arm vorbei nach den Butterkeksen greift, erntet erst einen ungläubigen, dann einen entrüsteten Blick. Auf einen Wortwechsel mag sie sich lieber nicht einlassen, um nicht auch noch Tröpfchen abzukriegen.

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Vor der Kasse dann doch diese hektische Szene: Die ältere Dame im Leopardenlook kämpft sich von Kasse zwei zu Kasse sechs durch, weil es nur dort Zigaretten gibt. Mit zwei Packungen in der einen Hand tastet sie sich mit der anderen durch den Pulk aus Menschen und Wagen, fasst dabei so ziemlich jeden Wagenschieber an, um die Dringlichkeit ihrer baldigen Rückkehr an Band zwei zu signalisieren.

Der Blick auf die anderen Bänder enthält einen Lichtblick: Viel Obst und Tiefkühlgemüse, wenig Chips und Süßkram. Ernähren sich die Leute in der Corona-Krise intuitiv gesünder? Vorräte an Vitaminen scheinen ihnen zumindest wichtiger als Zuckerreserven.

Gefühlt steigen die Preise schon

Auf die Frage, ob das nicht alles verrückt sei, schüttelt die Kassiererin zustimmend den Kopf. Die entschuldigende Floskel, man sei ja gezwungen sich einzudecken, wenn es jetzt alle tun, wird lächelnd ignoriert. Gefühlt ist der Einkaufswagen so voll wie gestern, aber sein Inhalt heute noch teurer. Hat da schon jemand an der Preisschraube gedreht?

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Vor der Kasse sorgt der Blick zum Bäcker im Supermarkt-Vorraum für gute Laune: Gestern noch gab es am frühen Abend tatsächlich kein einziges Brot mehr, heute sind die Regale noch gut gefüllt. Und wo es genug gibt, ist auch die Schlange kürzer. Was den älteren Herrn nicht daran hindert, dem Vordermann auf die Pelle zu rücken und über seine Schulter auf die Bestände der Kuchentheke zu lünkern. Er hat die Bilder in den Nachrichten aus China offenkundig nicht gesehen, wo jeder Wartende fünf Meter Abstand hält – trotz Maske.

In Mailand kaufen die Leute nur mit Atemmaske und vor allem so selten wie möglich ein. Die Regierung will ja, dass sie möglichst zu Hause bleiben.
In Mailand kaufen die Leute nur mit Atemmaske und vor allem so selten wie möglich ein. Die Regierung will ja, dass sie möglichst zu Hause bleiben. © dpa | Claudio Furlan

Mit zwei gefühlt zentnerschweren Taschen geht es heim in den vierten Stock. Ist nicht verkehrt als Ersatz für das wochenendliche Fitnessprogramm – denn in die Virenschleuder namens Fitnessstudio soll man in Vierteln mit nachgewiesenen Infektionen ja auch nicht mehr gehen. Zumal beim letzten Besuch die dort sonst reichlich vorhandenen Desinfektionsspender leer oder weg waren. Wenn jeder für sich trainiert, geht offenbar der Teamgeist verloren – auch was das Teilen von Hygienemitteln angeht. Als ob es nicht mindestens genauso wichtig wäre, dass der Vorbenutzer des Crosstrainers saubere Hände hatte.

Risikoanalyse von 2012 trifft nun voll zu

In der „Risikoanalyse Bevölkerungsschutz Bund“ von 2012 für den Fall einer Pandemie durch das Virus „Modi SARS“, einem seinerzeit noch hypothetischen Erreger, stand das alles schon so oder so ähnlich drin. Die Menschen werden sich bei einem Ausbruch sehr unterschiedlich verhalten. Wer Familie hat, ältere Verwandte zumal, wird mehr Rücksicht zeigen als ein Single. Auch Einkommens-und Bildungsniveau beeinflussen das Verhalten im Seuchenfall, heißt es in der Risikoanalyse. Was ja nur bedeuten kann, dass der weniger sensible Teil der Bevölkerung entsprechend massiver und besser aufgeklärt werden müsste.

Dem Eindruck des samstäglichen Einkaufs nach ist es ganz offenkundig nicht damit getan, vor unnötiger Panikmache zu warnen, erst recht nicht, wenn die Panikkäufe längst im Gange sind und alle mitreißen, die das eigentlich nicht wollen, aber auch gerne noch einmal Spaghetti mit Tomatensoße kochen möchten – und sich die letzten zwei Packungen schnappen.

Abstand halten ist das neue Miteinander

Wofür es nie zu spät ist: ein sorgsamerer, rücksichtsvollerer Umgang mit dem Nächsten – in der Familie ebenso wie an der Kasse und in der Nachbarschaft. Abstand halten gehört zum neuen Miteinander, auch wenn es paradox klingt. „Lassen Sie uns gerade jetzt besonnen bleiben und einander auch unter Stress vertrauen“ twittert das Bundesgesundheitsministerium. Noch besteht die Chance, dass diese Bitte mehr Gehör findet als die Warnung vor Hamsterkäufen.

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