Essen/Mülheim. Vor 50 Jahren wurde in Essen das erste deutsch-sowjetische Gasgeschäft besiegelt. Auch die Pipeline Nord Stream 2 ist politisch umstritten.

Als am 1. Februar 1970 Vertreter der Sowjetunion und der Bundesrepublik in Essen ihre Unterschriften unter den Erdgasröhren-Vertrag setzten, war das politische Beben in der ganzen Welt zu spüren. Mitten im Kalten Krieg machten ausgerechnet die Deutschen Geschäfte mit den Russen. Die Amerikaner schäumten, die Nato wackelte. 50 Jahre später ist es US-Präsident Donald Trump, der mit aller Macht die Gaspipeline Nord-Stream 2 kurz vor ihrer Vollendung doch noch zu Fall bringen will.

Auch interessant

„Die Situationen vor 50 Jahren und heute sind durchaus vergleichbar“, sagt Horst A. Wessel. Der Wirtschaftsprofessor leitete über Jahrzehnte das Archiv des einstigen Weltkonzerns Mannesmann. Es liegt in unmittelbarer Nähe zum Großrohrwerk in Mülheim, das damals wie heute die Röhren für die russischen Pipelines produziert. Wessel, inzwischen 76 Jahre alt, kann sich noch lebhaft an die heftige Debatte vor 50 Jahren erinnern. „Damals wurde befürchtet, dass die Russen über die neue Pipeline ihre Truppen in der DDR versorgen wollten“, sagt der Historiker.

Bei Temperaturen bis minus 45 Grad schweißen

Über all die Bedenken setzte sich die sozialliberale Regierung von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) hinweg. Von dem Deal sollten alle Beteiligten profitieren: die Russen, die ihre riesigen Erdgas-Vorkommen in Sibirien nach Europa liefern und die deutschen Unternehmen, die die Pipeline auf dem Meeresgrund technisch stemmen konnten. „Obwohl die Russen als die größten Röhrenhersteller der Welt galten, waren sie auf die Lieferung aus Mülheim angewiesen“, sagt Wessel. Nach der „Hochzeit des Jahres“, hatten die einstigen Rivalen Thyssen und Mannesmann ihre Geschäfte kurze Zeit zuvor aufgeteilt: Thyssen fokussierte sich auf den Stahl, Mannesmann auf die Röhren.

Der ehemalige Leiter des Mannesmann-Archivs, Horst A. Wessel, mit einem historischen Foto der ersten Röhren für das deutsch-sowjetische Gasgeschäft.
Der ehemalige Leiter des Mannesmann-Archivs, Horst A. Wessel, mit einem historischen Foto der ersten Röhren für das deutsch-sowjetische Gasgeschäft. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Auch interessant

Das Großrohrwerk, das seine Stahlbrammen von den Hüttenwerken Krupp Mannesmann (HKM) in Duisburg bezieht und in Mülheim walzt, war das einzige, das Röhren lieferte, die bei sibirischen Temperaturen von minus 45 bis plus 50 Grad geschweißt werden können. Und um die Beförderung des Erdgases kümmerte sich der Essener Energiekonzern Ruhrgas, der mit den Sowjets einen 25 Jahre laufenden Abnahmevertrag schloss.

Die Pipeline ist bis heute in Betrieb. Die Sowjets hatten penibel darauf geachtet, dass Mannesmann Qualität lieferte. „Es gab damals keine kritischeren Kunden als die Russen“, erinnert sich Historiker Wessel. „Zur Qualitätskontrolle musste im Mülheimer Werk stichprobenhaft zunächst jedes 20. Rohr einer Zerstörungsprüfung unterzogen werden. Ein Rohr kostete immerhin so viel wie ein VW Golf.“ Der Auftrag für den Industriekonzern war so gewaltig, dass täglich 80 Eisenbahn-Waggons voll mit Röhren das Mülheimer Werk gen Osten verließ. „Russland war für die Mannesmannröhren-Werke ein überaus wichtiger Handelspartner. 40 und mehr Prozent der Großrohr-Fertigung ging in die Sowjetunion“, so der Wirtschaftsprofessor.

Auch interessant

Nachdem sich der Rauch um den 1970 besiegelten Mega-Vertrag verzogen hatte, entspannten sich die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen. Leonid Breschnew, Generalsekretär der mächtigen Kommunistischen Partei, versprach bei seinem Besuch 1973 in Bonn dem damaligen Mannesmann-Chef Egon Overbeck, das Mülheimer Großrohrwerk auf Sicht zu 60 Prozent mit Aufträgen auszulasten. Bis 1986 lieferte Mannesmann Röhren mit einer Gesamtlänge von mehr als 40.000 Kilometern in den Osten. „Das entspricht dem Äquator-Umfang.“

Trumps Sanktionen gegen Nord Stream 2

Der einst so stolze Mannesmann-Konzern ist längst zerschlagen. Das Röhrengeschäft fand unter dem Dach des niedersächsischen Stahlkonzerns Salzgitter eine neue Heimat. Das Großrohrwerk gehört inzwischen zu Europipe, einem Gemeinschaftsunternehmen von Salzgitter und Dillinger Hütte mit Sitz in Mülheim. Europipe ist auch Hauptlieferant der Gaspipeline Nord Stream 2, die 50 Jahre nach dem ersten großen Deal mit den Russen politische Wellen schlägt. Nun ist es US-Präsident Donald Trump, der seine Fracking-Gasproduzenten vor der Konkurrenz aus dem Osten schützen will und Sanktionen gegen beteiligte Firmen verhängt hat.

Sergej Netschajew, russischer Botschafter in Berlin.
Sergej Netschajew, russischer Botschafter in Berlin. © Reto Klar / Funke Fotoservices

Auch interessant

Dabei ist die zweisträngige, mehr als 2300 Kilometer lange Leitung nach Angaben der russischen Regierung und des Betreiberkonsortiums, zu dem auch der Düsseldorfer Kraftwerksbetreiber Uniper gehört, zu 94 Prozent fertig. Die Regie führt der russische Staatskonzern und Schalke-Sponsor Gazprom. „Gazprom kann Nord Stream 2 eigenständig fertig bauen. Dafür sind bei dem Unternehmen alle erforderlichen technischen und finanziellen Ressourcen vorhanden“, sagte Sergej J. Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland, unserer Redaktion. „Der Fertigstellungstermin wird zwar um einige Monate verschoben. Doch das Projekt wird realisiert sein.“

Netschajew wehrt sich gegen den Vorwurf, das Geschäft als politisches Druckmittel zu nutzen. „Die Gaskooperation wird von uns nicht politisiert, sondern im Sinne des gegenseitigen Vorteils gesehen. Alle Befürchtungen, die Umsetzung von Nord Stream 2 würde die europäischen Länder von Russland abhängig machen, entbehren daher jeder Grundlage“, sagt der Botschafter.

>>> Erbitterter Streit um Nord Stream 2

Um die Gaspipeline Nord Stream 2 tobt seit Jahren ein erbitterter Streit zwischen den USA, Russland und Deutschland. Durch die fast zehn Milliarden Euro teure Ostsee-Doppelröhre sollen wie schon durch die erste Nordstream-Pipeline 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas von Russland nach Deutschland transportiert werden. Eigentlich sollte sie Ende 2018 in Betrieb gehen, zuletzt war von Sommer 2020 die Rede.

Doch durch die Ende vergangenen Jahres in Kraft getretenen US-Sanktionen gegen beteiligte Unternehmen und Personen droht eine weitere Verzögerung, Russlands Präsident Wladimir Putin sprach jüngst von Ende 2020 oder Anfang 2021. US-Präsident Donald Trump kritisiert, Europa mache sich mit Nord Stream 2 noch abhängiger von Russland. Das sei gegen die nationalen Sicherheitsinteressen der USA, lautet die Begründung für die kurz vor Weihnachten verhängten Sanktionen.

Sie richten sich vor allem gegen die Schweizer Spezialschiff-Unternehmen Allseas, das daraufhin ausstieg. Nun ruhen die Verlegearbeiten knapp 150 Kilometer vor der deutschen Küste, in drei Monaten wäre die Pipeline fertig gewesen. Russland betont, die Röhre auch allein fertig bauen zu können, nur muss erst einmal ein neues Verlegeschiff organisiert werden.

Die USA geben allein politische Gründe an, haben faktisch aber auch massive Wirtschaftsinteressen: Trump will der US-Frackingbranche helfen, ihr Gas in verflüssigter Form (LNG) nach Europa zu verkaufen. Je mehr, desto weniger russisches Erdgas durch die Ostsee strömt.

Die Bundesregierung verurteilte die US-Sanktionen als „eine Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten“. Tatsächlich weisen die Amerikaner aber stets zurecht darauf hin, dass die Pipeline auch in vielen EU-Ländern umstritten ist, vor allem in Polen. Nachdem Deutschland den Pipeline-Teil in seinen Gewässern europäischem Binnenrecht unterworfen hat, ist es in Brüssel aber ruhiger um Nord Stream 2 geworden.

Das Nord Stream-Konsortium führt der russische Staatskonzern Gazprom an, er trägt auch die Hälfte der auf 9,5 Milliarden Euro taxierten Baukosten. Die andere Hälfte teilen sich fünf europäische Energieunternehmen: Uniper und Wintershall/Dea aus Deutschland, die britisch-niederländische Royal Dutch Shell, OMV (Österreich) und Engie (Frankreich).