Essen. Nach Elend und Ausbeutung begann vor 100 Jahren die Mitbestimmung für Arbeitnehmer. Was Betriebsräte im Evonik-Konzern seither herausholten.
Als das „Betriebsrätegesetz“ am 4. Februar 1920 in Kraft trat, steckte die Mitbestimmung längst nicht mehr in den Kinderschuhen. Erste Ansätze gab es bereits zwei Jahrzehnte zuvor. Mit der Industrialisierung hatte die Arbeiterklasse bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Millionen-Stärke erreicht. Doch den Werktätigen ging es schlecht: lange Arbeitstage, niedrige Löhne und harte körperliche Arbeit machten die Menschen krank, die überdies in erbarmungswürdigen Wohnungen lebten und nur über ein geringes Bildungsniveau verfügten. Das Elend vor Augen schlossen sich immer mehr Arbeiter zu Räten und Gewerkschaften zusammen.
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Wie unterschiedlich die Entwicklung in den Betrieben verlief, hat Andrea Hohmeyer aus historischen Dokumenten zusammengetragen. Die Evonik-Archivleiterin hat mit ihrem Team die Entwicklung der Mitbestimmung in den Vorgängergesellschaften des Essener Chemiekonzerns erforscht und in dem druckfrischen Buch „Menschen Machen Mitbestimmung – 120 Jahre zwischen Konflikt und Kooperation“ zusammengetragen.
Liberaler Chef bei Degussa contra Patriarch Goldschmidt
Die widersprüchliche Situation der Arbeitnehmerrechte vor Inkrafttreten des Betriebsrätegesetzes skizziert Hohmeyer im Gespräch mit unserer Redaktion am Beispiel zweier Firmen, die im Laufe der Zeit in Evonik aufgingen: die Chemische Fabrik Th. Goldschmidt, die das erste Verfahren zur Entzinnung von Weißblech erfand und später in Essen industriell nutzte, sowie die Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt, die später unter dem Namen Degussa Geschichte schrieb.
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„Als liberal denkender Unternehmer führte Heinrich Roessler bereits 1875 eine Kranken- und Unfallversicherung ein, seit 1884 gab es bei der Degussa den Achtstundenarbeitstag und 1886 kam die Pensions- und Unterstützungskasse hinzu“, erzählt die Konzernarchivarin. 1898 habe der damalige Degussa-Chef erstmals frei gewählte Arbeiterausschüsse zugelassen und Fortbildungsmöglichkeiten gefördert. „Mündige Arbeiter waren ihm wichtig“, so Hohmeyer.
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„Karl Goldschmidt hingegen war sozial denkender Patriarch“, unterstreicht die Historikerin die Differenzen zwischen beiden erfolgreichen Unternehmern. Goldschmidt gründete eine Pensions- und einer Betriebskrankenkasse, baute ein Erholungsheim für Mitarbeiter und führte fortschrittliche Urlaubsregelungen ein. Hohmeyer: „Im Gegenzug erwartete er allerdings von den Mitarbeitern, dass sie sich von gewerkschaftlichen Aktivitäten und der Sozialdemokratie fernhielten.“ Und wer erschöpft oder nach dem Genuss von zu viel Alkohol bei der Arbeit einschlief, musste ein Strafgeld von 50 Pfennig bezahlen.
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Doch weder sozialpolitische Neuerungen seitens der Regierung noch die „Sozialistengesetze“ konnten verhindern, dass die Opposition der Arbeiter deutschlandweit weiterwuchs. Sie tankten Selbstbewusstsein, als zwischen 1888 und 1914 mehr Arbeit da war als Fachkräfte, die sie erledigten. Nach dem Boom stürzte der Erste Weltkrieg die Unternehmen in eine Krise. Bei Goldschmidt wurden Mitarbeiter entlassen und Löhne um 20 Prozent gekürzt. Mit dem Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst versuchte der Staat 1916, den sozialen Verwerfungen entgegenzusteuern. Erste Arbeiter- und Angestelltenausschüsse, die es bei der Degussa schon gab, wurden gegründet. Lohnerhöhungen und ein einmaliges Kartoffelgeld von 30 Mark wurden durchgesetzt.
Tarifverträge nach der Flucht des Kaisers
Nach Endes des Kriegs am 9. November 1918 floh der Kaiser ins Ausland. Eine sozialdemokratische Regierung übernahm die Macht in Deutschland. Wenige Tage später trat das Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen in Kraft, das Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammenbinden und Tarifverträge schließen sollte.
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Degussa führte den Acht-Stunden-Tag ein. Mitbestimmung etablierte sich. Nicht so bei Goldschmidt in Essen, wo es schon als Durchbruch galt, dass die Arbeiter- und Angestelltenausschüsse schwarze Bretter im Betrieb aufhängen und darauf Nachrichten veröffentlichen durften.
Am 4. Februar 1920 trat dann das Betriebsrätegesetz in Kraft. In 106 Paragrafen auf 28 Seiten wurde die Mitbestimmung bis ins kleinste Detail geregelt. In allen Betrieben mit 20 oder mehr Beschäftigten mussten fortan Betriebsräte eingerichtet werden. Einer Sensation gleich kam, dass in Aufsichtsräte von Kapitalgesellschaften nun ein oder oder zwei Arbeitnehmervertreter einzogen. Gleichwohl war das Gesetz schwer umstritten. Bei seiner Verabschiedung hatten nur wenige Meter vom Plenarsaal im Berliner Reichstag entfernt schwer bewaffnete Polizeitrupps mit Maschinengewehren Stellung bezogen. Schüsse fielen, es gab Tote und Verletzte unter den Demonstranten.
Heute haben 41 Prozent der Firmen Betriebsräte
Seither reden Mitarbeiter in deutschen Unternehmen mit. Nach Angaben der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung haben aktuell 41 Prozent der Betriebe ab fünf Beschäftigten einen Betriebsrat an ihrer Seite. Es kommt aber auch vor, dass sich Arbeitnehmer ihre Rechte vor Gericht erkämpfen müssen. Nicht so bei Evonik. „Es gibt keine Hinweise darauf, dass in den Vorgängergesellschaften von Evonik jemals die Gründung eines Betriebsrats unterdrückt wurde“, sagt die Archivleiterin. Im Gegenteil: Ihre Recherchen ergaben, dass etwa bei Arbeitsplatzabbau oder der Verkündung von Kurzarbeit die Werkleiter zuvor gern die Zustimmung der Betriebsräte einholten. Hohmeyer: „Die Arbeitnehmervertreter konnten sich bei einschneidenden Maßnahmen nicht wegducken, sondern waren dann ganz nach dem Motto eingebunden: Geteiltes Leid ist halbes Leid.“