Essen. Immer öfter prallen Radfahrer vor unachtsam geöffnete Autotüren. Es gibt viele Ideen, das zu verhindern – von Warnsignalen bis zu Tür-Blockaden.
Den in diesen Wochen besonders nervtötenden Berufsverkehr ertragen, die eiligsten Einkäufe erledigt, endlich einen Parkplatz gefunden, nichts wie raus aus dem Auto und – ein dumpfer Knall. Der fehlende Schulterblick wird der Radfahrerin zum Verhängnis, sie hat keine Chance mehr zu reagieren, knallt ungebremst vor die Innenseite der Fahrertür, mit dem Kopf vor die obere Türkante. So oder so ähnlich ereignen sich in Deutschland jedes Tausende Unfälle, Dutzende davon tödlich. Dabei wären sie mit Verhaltensänderungen der Autofahrer, technischer Hilfe und klügerer Verkehrsplanung leicht zu verhindern.
Im Verhältnis zu anderen Unfallursachen prallen Radfahrer zwar vergleichsweise selten gegen sich öffnende Autotüren, doch das endet überdurchschnittlich häufig mit schweren Verletzungen oder gar tödlich. Laut Statistischem Bundesamt verunglückten 2018 mit 88.850 Radfahrern deutlich mehr als im Vorjahr, dabei waren gut 50.000 Mal Autos in den Unfall verwickelt. Nach Hochrechnungen der Unfallforschung der Versicherer (UDV) für unsere Redaktion auf Basis ihrer eigenen Datenbank gingen davon rund 3500 Unfälle auf plötzlich geöffnete Autotüren zurück, das so genannte „Dooring“. Dabei gab es rund 700 Schwerverletzte. Zahlen darüber, wie viele „Dooring“-Opfer unter den 2018 insgesamt 445 tödlich verunglückten Radfahrern waren, gibt es nicht. Aber immer wieder Berichte darüber, etwa in diesem Jahr aus Duisburg. Ideen, das zu verhindern, gibt es viele, doch umgesetzt sind die wenigsten.
Verkehrsplanung als Sicherheitsrisiko
Die Versicherungen beobachten wachsende Gefahren für Tür-Unfälle. „Die Dooring-Unfälle haben mit den Radspuren auf den Straßen zugenommen“, nennt UDV-Chef Siegfried Brockmann einen Grund, den die Stadtplaner der Kommunen zu verantworten haben. Die auf die Fahrbahn nur aufgemalten Radfahrstreifen liegen zwischen der Hauptfahrbahn und den parkenden Autos, deren Fahrer in der Regel ihre Tür Richtung Radstreifen öffnen. „Die Planer tun so, als hätten sie etwas für die Radfahrer getan, dabei wird es dadurch nur gefährlicher“, sagt Brockmann. Die Versicherer fordern mindestens 75 Zentimeter Abstand zwischen Radspur und Parkstreifen. Und wenn das nicht möglich ist? „Dann lässt man es besser, ein Mischverkehr auf einer Fahrbahn ist besser als ein Radstreifen, der die Fahrer in trügerischer Sicherheit wiegt“, sagt Brockmann.
88.850 Unfälle mit verletzten Radfahrern
2018 wurden bundesweit 88.850 Unfälle mit verletzten Radfahrern registriert, elf Prozent mehr als im Vorjahr. 15.530 Radfahrer und damit zehn Prozent mehr wurden dabei schwer verletzt, 445 starben an den Folgen des Unfalls (+ 17 Prozent).
Bei jedem fünften Unfall war der Radfahrer laut Statistischem Bundesamt der Alleinverursacher. War ein anderer Verkehrsteilnehmer beteiligt, handelte es sich in drei von vier Fällen um einen Pkw. Bei gut 50.000 Kollisionen mit Autos wurden Radfahrer verletzt. Rund 3500 dieser Unfälle prallten Radler vor Autotüren.
Auch der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC) kritisiert die „auf die Fahrbahn gepinselte Alibi-Infrastruktur“ und fordert „vom starken Autoverkehr physisch getrennte Radwege“, so ADFC-Sprecherin Stephanie Krone. Wegen der „Auto-fokussierten Verkehrsplanung“ müssten die Radfahrer „oft auf der Fahrbahn – eingequetscht zwischen fließendem Kfz-Verkehr und parkenden Autos – mitschwimmen“. Der „zunehmend motorisierte Verkehr und immer breitere Autos“ gefährdeten die Sicherheit der Radfahrenden. Das Straßenrand-Parken solle in den Innenstädten „auch aus Platzgründen stark zurückgefahren“ werden, fordert Krone.
Der holländische Griff
Die einfachste Schutz wären natürlich aufmerksamere Autofahrer. Das lässt sich nicht erzwingen, aber verinnerlichte Verhaltensmuster könnten schon helfen. Dafür nennen Sicherheitsexperten als ersten Tipp stets den „holländischen Griff“: Wenn der Fahrer sich angewöhnt, seine Tür mit der rechten Hand zu öffnen, dreht sich sein Oberkörper von allein Richtung Tür, so dass der Schulterblick nach hinten leichter fällt. In den Niederlanden ist das gelebte Praxis.
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Technische Lösungen könnten Auto- oder Radfahrer warnen. Letzteres möchte der Weseler Erfinder Zülfikar Celik erreichen: Er hat als Patent bereits vor zehn Jahren eine Signalautomatik angemeldet, bei der die hinteren Bremslichter aufleuchten, sobald eine Tür geöffnet wird. Das könne besonders in der Dunkelheit, die in diesen Wochen bereits am frühen Nachmittag einsetzt, nahende Radfahrer warnen. Selbst wenn die Zeit nicht mehr ausreiche, um vollständig zu bremsen, könne das zumindest die Unfallschwere lindern. „Das erfordert nur eine kleine Änderung in der Elektronik, wäre sehr leicht und günstig umzusetzen und könnte Menschenleben retten“, sagt der frühere Taxifahrer aus Wesel. Das Problem: Dafür müssten die Zulassungsvorschriften geändert werden, die für jede Lampe festlegen, wann sie angehen darf. Celik kämpft dafür seit Jahren.
Warnleuchten und Tür-Blockaden
Den effektivsten Schutz böten Türen, die sich gar nicht erst öffnen lassen, wenn ein Radfahrer naht. Denn es bleibt in der Regel kaum Zeit zu reagieren – bei 20 Stundenkilometern benötigt ein Radfahrer rund 11 Meter, um zum Stillstand zu kommen. Die Weiterentwicklung der Sensortechnik macht Türblockaden möglich, konkrete Lösungen sind aber noch rar oder in den Kinderschuhen. Audi testet im A6 eine Technik, die das Öffnen der Tür um eine knappe Sekunde verzögert, die kurze Blockade soll den Fahrer sensibilisieren, sie lässt sich aber beim zweiten Versuch umgehen. Der Velberter Türschloss-Hersteller Kiekert entwickelt vollelektronische Türschlösser ohne Griff, die sich nicht öffnen lassen, wenn Sensoren herannahende Fahrzeuge erkennen.
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Die Versicherer befürworten derartige Lösungen, sie müssten laut UDV in wenigen Jahren auch in der Breite umsetzbar sein. Dabei sei es aber „wichtig, nicht zu viele Fehlauslösungen zuzulassen“, sagt Unfallforscher Brockmann. Auch verstehe er, dass die Autoindustrie hier vorsichtig agiere, weil niemand die Käufer seiner Autos in diesen einschließen wolle.
Die Autoindustrie hätte die Technik längst
Reinhard Spörer, der sich als Leiter der Region Hannover beim ADFC um das Thema Dooring kümmert, wirft der Autoindustrie Untätigkeit vor und betont: „Die Hardware für all diese Lösungen ist da, die Autoindustrie müsste sie nur einsetzen und ihre Software anpassen.“ So gebe es seit Jahren Tote-Winkel-Assistenten, die während der Fahrt auch vor Radfahrern warnen, doch mit der Zündung würden sie ausgeschaltet – anders als etwa Radio und Innenbeleuchtung. „Die Autoindustrie tut alles, um es den Fahrern so angenehm wie möglich zu machen. Nur um die anderen Verkehrsteilnehmer kümmert sie sich nicht“, sagt Spörer. Er befürwortet alles, was die Sicherheit erhöht. Das Mindeste wäre für ihn, dass bestehende Warnsysteme nicht deaktiviert werden, so lange noch jemand im Auto sitzt.