Essen. Die Flaschenpost beliefert inzwischen fast das gesamte Ruhrgebiet, will nun sogar ins Ausland expandieren. Kleine Getränkemärkte verschwinden.

Diese pink-weißen Bullis sind immer häufiger zu sehen in den Straßen des Ruhrgebiets. Halten wie die gelben, braunen und weißen Paketdienste gern in zweiter Reihe vor dem Haus, laden nur keine Kartons aus, sondern Bier- und Wasserkisten. Der Getränke-Bringdienst Flaschenpost, ein Start-up aus Münster, etabliert sich zwischen Duisburg und Dortmund als der große Schrecken kleiner Getränkemärkte. Und denkt bereits über eine Expansion ins benachbarte Ausland nach, wie Unternehmenschef Stephen Weich im Gespräch mit dieser Zeitung erklärte.

60.000 Kisten am Tag

Geschwindigkeit ist oberste Geschäftsmaxime: Die Flaschenpost kommt verlässlicher und schneller an als die von der einsamen Insel auf Weltreise geschickte Buddel. Maximal zwei Stunden nach der Online-Bestellung, so lautet das Versprechen des Unternehmens, stehen die Kisten an der Wohnungstür, auch wenn die unterm Dach liegt. Ohne Liefergebühr und zu handelsüblichen Preisen. Das verfängt offenkundig bei vielen Kunden, aktuell bestellen sie nach Unternehmensangaben 60.000 Kisten – am Tag.

Die Flaschenpost schwimmt auf einer Erfolgswelle, die Schlagzahl beim Öffnen neuer Standorte ist enorm. So war das Ruhrgebiet bis Herbst 2018 ein weißer Fleck auf der Deutschlandkarte des Unternehmens, inzwischen kann es fast flächendeckend beliefert werden. Bochum machte im September 2018 den Anfang, es folgten Duisburg, Dortmund und im Mai Essen. Vor drei Wochen erst kam noch Bottrop hinzu.

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Zum Start mindestens 40 Lieferwagen

Ein neuer Standort ist keine Kleinigkeit, er besteht aus einem Großlager mit 7000 bis 11.000 Quadratmetern, zum Start mindestens 40 Lieferwagen und einer auf Anhieb dreistelligen Belegschaft. Das Geschäft im Ruhrgebiet entwickelt sich laut Weich überdurchschnittlich gut, die geringere Kaufkraft spiele keine Rolle. „Wir sind nicht von der Kaufkraft abhängig. Das Grundbedürfnis, Getränke bis an die Wohnungstür geliefert zu bekommen, ist überall gleich groß.“

Nun ist die Idee, Getränke nach Hause zu liefern, alles andere als neu. Bringdienste wie Aquella gibt es seit Jahrzehnten, auch kleine Getränkemärkte fahren oft selbst aus. Aber in der Regel gegen Aufpreis, selten so schnell und fast nie nach einer Online-Bestellung. Der Verband des Deutschen Getränke-Einzelhandels verfolgt die Entwicklung von Flaschenpost deshalb mit großem Interesse und nicht ohne Anerkennung. Sein Chef Andreas Vogel rät den niedergelassenen Getränkehändlern, eigene Online-Dienste aufzubauen. Das sei vor allem für die größeren Ketten machbar, deren Umsätze zuletzt trotz der neuen Konkurrenz weiter gestiegen seien.

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Die Branche steckt seit langem in einer Konsolidierung, binnen zehn Jahren gab jeder fünfte Getränkemarkt auf, zuletzt waren es bundesweit noch 9500. Vor allem die Einzelkämpfer unter den Händlern werden immer weniger. „Sie verlieren schon lange Kunden an die Supermärkte und an die großen Filialisten – und jetzt eben auch noch an Flaschenpost“, sagt Vogel. Er geht davon aus, dass die Zahl der Niederlassungen weiter sinkt. Zumal sich zeige, dass vor allem junge Leute Online-Lieferdienste wie Flaschenpost nutzen, „und das sind die Kunden der Zukunft“.

Die klassischen Getränkemärkte verlieren Kunden an Bringdienste wie Flaschenpost. Viele liefern aber auch selbst.
Die klassischen Getränkemärkte verlieren Kunden an Bringdienste wie Flaschenpost. Viele liefern aber auch selbst. © dpa | Henning Kaiser

Getränkemärkte, Tankstellen, aber auch Supermärkte verlieren Umsätze an Flaschenpost. Man blickt skeptisch auf die Neulinge, die ihnen aus dem Stand Marktanteile abknöpfen. Und wie bei den Essenskurieren von Foodora, Lieferando & Co. blicken viele mitleidig auf die Boten, die mit der Pizza auf dem Rücken durch den Regen radeln oder wie bei Flaschenpost volle Kisten schleppen. Gerüchte über Lohndumping und schlechte Arbeitsbedingungen sind schnell verbreitet, aber bisher nicht belegt.

„Ich fahre noch regelmäßig selbst“, sagt Vorstandschef Stephen Weich, „mir ist es nicht egal, wie es unseren Fahrern geht.“ Der Stundenlohn beginne bei 10,50 Euro und werde abhängig von der Betriebszugehörigkeit auf 12,50, maximal 14 Euro angehoben. Dazu erhielten die Fahrer häufig auch Trinkgeld. Für den Job sei körperliche Fitness schon wichtig, viele Studenten würden in den Semesterferien anheuern. Etwa ein Viertel der Beschäftigten arbeite in Vollzeit.

An den Erfolg von Flaschenpost glauben auch die Geldgeber, es wird für das Unternehmen immer leichter, an frisches Geld für seine Expansion zu kommen. Im März schoss der New Yorker Risikokapitalfonds Tiger Global 50 Millionen Euro zu. Mit jeder Erweiterung des Netzes wächst auch die Marktmacht, mit der Weich inzwischen direkt bei den Brauereien und Brunnen die Konditionen aushandelt.

2020 erreicht Umsatz dreistellige Millionenhöhe

„Wir bewegen uns in Richtung eines Jahresumsatzes in dreistelliger Millionenhöhe“, sagt Weich. Das sei das Ziel für das kommende Jahr. Derlei Summen sind für ein drei Jahre junges Start-up ebenso ungewöhnlich wie ein Chef, der sich Vorstandsvorsitzender nennen darf. Die ersten Standorte in Münster und Köln schrieben bereits schwarze Zahlen, sagt Weich. Neue Niederlassungen seien bisher jeweils nach 12 bis 20 Monaten rentabel geworden. Weil fast im Monatstakt neue Filialen für viel Geld hochgezogen werden, schreibt das Unternehmen insgesamt bis auf weiteres Verluste.

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Dabei fuhr das Münsteraner Start-up im ersten Anlauf vor die Wand. „Wir wurden beim ersten Versuch 2014 vom Erfolg unserer Idee überrascht und schließlich auch überfordert“, sagt Stephen Weich rückblickend. Die Nachfrage war zu groß, die Logistik mit Lager und Fuhrpark zu klein, das Start-up schnell am Ende. „Das war eine schmerzliche Erfahrung“, sagt Weich heute, „aber sie hat uns beim zweiten Anlauf sehr geholfen.“

Bislang unterm Strich rote Zahlen

Das Ende der Entwicklung ist noch nicht in Sicht. Doch erst nach der teuren Expansionsphase, die beim Aufbau von Online-Lieferdiensten stets jahrelang mit roten Zahlen erkauft werden muss, wird sich zeigen, wie stabil die Flaschenpost ist. „Ich will ein nachhaltiges Unternehmen aufbauen“, betont der Vorstandschef. Man überlege derzeit auch eine Expansion ins benachbarte Ausland. „Wir schauen uns vier Städte in verschiedenen Ländern genauer an“, sagt Weich.