Essen. . Brenntag-Chef Steven Holland sieht sein Heimatland in einer schweren Verfassungskrise. Bei hartem Brexit drohe Europa eine Rezession.

Als Brenntag-Chef hat Steven Holland im vergangenen Jahr ein Rekordergebnis eingefahren. Die Brexit-Debatte in seinem Heimatland lässt den Manager, der in London lebt, aber alles andere als jubeln. Ein Gespräch über Sorgen um die europäische Wirtschaft, den weltweiten Chemiehandel und den Hollands geplanten Abschied vom Essener MDax-Konzern.

Mr. Holland, in wenigen Tagen, Wochen oder wann auch immer will Ihr Heimatland Großbritannien die Europäische Union verlassen. Haben Sie noch den Überblick über den Stand der Verhandlungen zwischen London und Brüssel?

Steven Holland: Das Bild, das die britische Politik derzeit abgibt, ist beschämend und enttäuschend. Es fehlt die politische Führung. Mein Eindruck ist, dass die Leute allmählich die Nase voll haben von dem Brexit-Prozess. Niemand weiß, ob es einen Deal oder keinen Deal geben wird oder ob sich der Wind noch einmal komplett dreht.

Warum tun sich die Briten so schwer mit dem Brexit?

Es ist kaum zu verstehen. Das Problem ist aus meiner persönlichen Sicht: Das Parlament sagt immer nur, was es nicht will. Es bleibt unklar, was die Politik plant. Diese Unentschlossenheit hat Großbritannien in die schwerste Verfassungskrise seit 300 Jahren gestürzt.

Brenntag-Chef Steven Holland (r.) im Gespräch mit WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock.
Brenntag-Chef Steven Holland (r.) im Gespräch mit WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock. © Fabian Strauch

Was denken Sie persönlich: Welcher ist der richtige Weg für Großbritannien?

Ich habe die Sorge, dass ein No-Deal, also ein harter Brexit ohne Vereinbarung mit der EU, die europäische Wirtschaft im schlimmsten Fall an den Rand einer Rezession bringen könnte. Großbritannien importiert deutlich mehr Konsum- und Industrieartikel, als in den Export gehen. Es ist völlig unklar, wie das nach einem harten Brexit funktionieren soll. Ich befürchte, das wird ein Schock für das Land.

Ist Brenntag auf den Brexit vorbereitet?

Wir sind sehr gut vorbereitet. Wir arbeiten intensiv mit unseren europäischen Partnern zusammen, um die Lieferkette nach Großbritannien aufrechterhalten zu können. Wir bringen Chemikalien großer Hersteller wie BASF, Bayer und Evonik aus Produktionsstätten in ganz Europa nach Großbritannien. Auf der anderen Seite beliefern wir europäische Länder unter anderem mit Chemikalien des größten britischen Herstellers Ineos.

Welche Bedeutung hat Großbritannien für Brenntag?

Eine große. Wir beschäftigen über 800 Mitarbeiter auf der Insel. 15 Prozent unseres Europa-Geschäfts machen wir in Großbritannien. Großbritannien wird wichtiger Bestandteil unseres Geschäfts innerhalb Europas bleiben. Wir werden das bewältigt bekommen.

Erwarten Sie hohe Einfuhrzölle?

Natürlich rechnen wir mit Änderungen bei den Gebühren. Nach Angaben der Regierung sollen bei einem harten Brexit aber 78 Prozent der Produkte weiterhin zollfrei sein. Bei hohen Zöllen wären manche Güter nicht mehr wettbewerbsfähig.

Brenntag-Chef Steven Holland und Stefan Schulte, Leiter der WAZ-Wirtschaftsredaktion, im Essener Newsroom der Funke Mediengruppe.
Brenntag-Chef Steven Holland und Stefan Schulte, Leiter der WAZ-Wirtschaftsredaktion, im Essener Newsroom der Funke Mediengruppe. © Fabian Strauch

Brenntag wächst vor allem in Asien und Nordamerika. Sehen Sie auch Chancen in Europa?

Wir sind bereits der Marktführer in Europa. Wir brauchen hier keine zusätzlichen Kapazitäten mehr. Brenntag wird sich in Europa neuen Aufgaben stellen. Dazu gehören Digitalisierung und smarte Logistik. Wir haben gerade unser Geschäft für Lebensmittel und Ernährung neu aufgestellt. Wir wollen es klarer von den Industriegütern abgrenzen. Die größte Herausforderung für uns in Europa wird sein, die hohen Kosten in den Griff zu bekommen.

Wo sehen Sie Ihre Wachstumsmärkte?

Ganz klar in Nord- und Lateinamerika sowie im asiatischen-pazifischen Raum.

Birgt der künftige, viel schnellere Mobilfunk-Standard 5G neue Chancen für Ihre Branche?

Wir sind bestens vorbereitet auf die Digitalisierung. Die Kunden rufen uns aber nach wie vor einfach an, um Chemikalien zu bestellen. Der persönliche Kontakt ist für uns immer noch der beste und einfachste Weg der Kommunikation. 5G wird für unser Geschäft keine große Bedeutung haben.

Mehr europäische Brenntag-Investoren

Im vergangenen Jahr haben sie Brenntag noch als „anglo-amerikanischen Konzern“, der nur seine Hauptverwaltung in Deutschland hat, bezeichnet …

… da muss ich mich inzwischen korrigieren. Auf Seiten unserer Anteilseigner hat es Veränderungen geben. Wir haben jetzt mehr europäische Investoren unter unseren Aktionären. Ein gutes Beispiel dafür ist der deutsche Vermögensverwalter Flossbach von Storch, der über drei Prozent an Brenntag hält. Nichtsdestotrotz fühlen wir uns als internationaler Konzern. Weniger als zehn Prozent unseres Geschäfts machen wir im deutschsprachigen Raum.

Die neue Brenntag-Zentrale in Essen.
Die neue Brenntag-Zentrale in Essen. © Kerstin Kokoska

Fühlen Sie sich in Ihrer neuen Essener Konzernzentrale, die Sie Ende 2017 bezogen haben, wohl? Vom altehrwürdigen Stinnes-Hochhaus in Mülheim waren Sie ja bekanntlich nicht so begeistert.

Unsere Wurzeln bleiben natürlich bei Stinnes in Mülheim, auch wenn der Konzern mit Schenker zum größten Teil in der Deutschen Bahn aufgegangen ist. Am Grugapark in Essen sind wir aber sehr glücklich. Wir lieben Essen. Das Gebäude ist das beste, in dem ich jemals gearbeitet habe. Das Design ist einfach toll. Die dunklen, geschlossenen Flure im Mülheimer Stinnes-Hochhaus waren einfach nicht mein Stil. Es war für uns aber auch zu klein geworden.

Während Ihrer bald neun Jahre als Vorstandschef bei Brenntag haben Sie rund 50 Unternehmen dazu gekauft und den Umsatz um über 60 Prozent auf zuletzt 12,6 Milliarden Euro hochgeschraubt. Haben Sie weitere Übernahmekandidaten im Auge?

Brenntag stehen pro Jahr 200 bis 300 Millionen Euro für Akquisitionen zur Verfügung. Mit dieser Strategie wollen wir fortfahren. Übernahmemöglichkeiten sehen wir vor allem in Nordamerika und im Raum Asien-Pazifik. Schanghai zum Beispiel ist ein verheißungsvoller Markt für uns.

Warten auf Elektro-Lkw

Glauben Sie, dass der Konzentrationsprozess in der Chemie-Branche weitergehen wird?

Absolut. Ich sehe nicht, dass das Tempo nachlässt. Ich bin davon überzeugt, dass wir noch mehr Produzenten für Brenntag gewinnen können.

Wann werden Sie die ersten Elektro-Lastwagen in Ihre Flotte aufnehmen?

Wir diskutieren gerade, wie wir unseren Kohlendioxid-Ausstoß, der vornehmlich durch Diesel entsteht, verringern können. E-Lkw sind dabei nur eine Lösung. Allerdings kann man mit ihnen keine langen Strecken fahren. Es gibt dafür aber noch keine Industrie.

Würden Sie sich finanzielle Unterstützung vom Staat bei der Umrüstung Ihres Fuhrparks wünschen?

Holland (lacht): Es ist nicht zu viel gesagt, dass die Elektrifizierung von Lastwagen enorme Investitionen für Unternehmen bedeutet.

Das Brenntag-Distributionszentrum in Duisburg.
Das Brenntag-Distributionszentrum in Duisburg. © Tanja Pickartz

Sie haben angekündigt, dass Sie ihren Vertrag als Brenntag-Chef über Februar 2020 hinaus nicht verlängern wollen. Warum?

Ich bin 62 Jahre alt und werde 2020 neun Jahre Vorstandsvorsitzender gewesen sein. Das ist eine ziemlich lange Zeit. Mit der Digitalisierung und Veränderung der Infrastruktur in unserem Konzern steht Brenntag vor Langzeit-Projekten. Der CEO sollte bei dieser langen Reise auch bis zum Ende dabei sein.

Welche Pläne haben Sie für die Zeit nach Brenntag?

Ich gehe schweren Herzens und werde mir neue Herausforderungen suchen. Zum Beispiel bei der V.Group. Sie ist einer der größten Dienstleister im Schifffahrtssektor Europas.


Das Interview führten James Brunt, Frank Meßing, Stefan Schulte und Andreas Tyrock.