Bottrop. . Zum Abschied von der Steinkohle in Bottrop würdigt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer großen Rede das Ruhrgebiet und „die Kumpel“.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beginnt seine Rede in Bottrop mit dem Wort „Glückauf“ und beendet sie mit „Zukunft“. Er wählt große Worte für den Moment, in dem auf dem Gelände von Deutschlands letzter Zeche ein Stück Wirtschaftsgeschichte zu Ende geht. „Wir sind heute, hier auf Prosper-Haniel, Zeugen eines historischen Augenblicks“, sagt Steinmeier – und spricht von einem Ereignis, das „alle in Deutschland“ etwas angehe.

Steinmeiers Rede kann auch wie eine Liebeserklärung an das Ruhrgebiet gelesen werden. Der Bundespräsident würdigt die Leistungen der Menschen, ihren Mut, ihre Heimatliebe und ihre Fähigkeit, „buchstäblich Berge zu versetzen“. Im Zentrum seiner Rede steht „der Kumpel“.

Das „wunderbare Wort“ Kumpel

„Kennt ein anderer Beruf ein solch wunderbares Wort?“, fragt Steinmeier. „Ein Wort, das ursprünglich den Arbeitskameraden in der selbstständigen Arbeitsgruppe unter Tage meint, in der man sich auf Gedeih und Verderb, auf Leben und Tod, auf den anderen verlassen können musste. Und verlassen konnte.“ Darum sei „Kumpel“ in den Sprachgebrauch des Alltags eingekehrt: „Jemand, auf den ich mich hundertprozentig verlassen kann, das ist ein Kumpel.“ Heute gelte das überall: auf dem Spielplatz und im Labor, auf dem Schulhof und auf dem Bau, in der Uni und im Verein. „Aber vor Kohle ist das Wort in diesem Sinn geboren worden. Vor Kohle wurden aus Fremden Kumpel. Vor Kohle war unbedingte Solidarität die erste Währung. Und alles andere kam danach: Der gute Lohn, der Erfolg, der Stolz auf das, was man zusammen hart erarbeitet hat.“

Steinmeier erzählt die Historie des Bergbaus damit auch als ein Beispiel für Integration. Menschen aus den Ostprovinzen Preußens, aus Masuren und Schlesien, später aus Italien, der Türkei und selbst aus Korea seien ins Ruhrgebiet gekommen – „und sie blieben hier, sie fingen an zu arbeiten und sie wurden Kumpel“.

An diesem Tag einmal Pathos

Solidarität habe es auch beim Abschied von der Steinkohle gegeben. „Dass niemand ins Bergfreie fallen sollte, ist eingetreten. Das ist eine große, eine historische Leistung. Zugegeben: Auch eine Leistung, die gekostet hat und für die wir alle bezahlt haben“, sagt Steinmeier. „Aber drückt sich in den Milliarden Steuergeldern nicht doch so etwas wie der Dank des Vaterlandes aus für die, die 1000 Meter unter der Erde in Hitze, Dreck und ständiger Gefahr Gesundheit und Leben riskiert haben? An einem Tag wie heute darf so viel Pathos einmal sein.“

Wenn jetzt in Deutschland über einen Ausstieg aus der Förderung der Braunkohle gesprochen werde, müsse es wieder um Werte wie „Solidarität und Partnerschaftlichkeit“ gehen, mahnt der Bundespräsident. „Auch hier geht es darum, den Menschen vor Ort Zukunftsperspektiven zu schaffen“, sagt er und fügt hinzu: „Die Art, wie man das hier im Revier hinbekommen hat, kann dafür ein Beispiel sein.“

Die Entdeckung des Ruhrgebiets

Er sehe „überall gute Ansätze zu Neuem“ im Ruhrgebiet, sagt Steinmeier: eine dichte Hochschullandschaft von Dortmund bis Duisburg, Universitäten, Fachhochschulen, Forschungsinstitute, die zur 1. Liga in Deutschland gehören und jede Menge Gründer, die daraus herauswachsen. Und mit dem Ende der Steinkohlenförderung komme die Rolle des Ruhrgebiets in der Energiewirtschaft keineswegs zu einem Ende. „Die Unternehmen der Energiewirtschaft haben sich verändert, aber sie bleiben – und mit ihnen das in Generationen angewachsene Wissen.“ In diesem Zusammenhang erwähnt der Bundespräsident auch Werner Müller, den langjährigen Chef der RAG-Stiftung, der schwer erkrankt ist. „Lieber Werner Müller, Du glaubst nicht, wie sehr wir uns freuen, dass Du heute bei uns bist“, ruft Steinmeier dem früheren Wirtschaftsminister zu.

Das „vielleicht größte Wunder“ der vergangenen Jahrzehnte sei aber die selbstbewusste Identität, die im Ruhrgebiet entstanden sei, urteilt Steinmeier. Der Schriftsteller Heinrich Böll habe 1958 noch im Vorwort zu einem „berühmt-berüchtigten Fotoband“ über das Ruhrgebiet geschrieben: „Das Ruhrgebiet ist noch nicht entdeckt worden“. Das stimme heute nicht mehr, hält der Bundespräsident dagegen. „Es ist entdeckt worden. Und zwar vor allem und endlich von seinen Menschen selber. Die Menschen hier haben sich selbst entdeckt, ihren Wert, ihren Humor, ihre Unterschiede und ihre Gemeinsamkeiten, ihre Kraft, ihr Können, ihre Identität.“

Über Helge Schneider und Herbert Knebel

Dazu habe auch die Kultur beigetragen, die Theater und Opernhäuser von Duisburg bis Dortmund. Steinmeier nennt das Lehmbruck- und das Folkwang-Museum, das Quadrat in Bottrop, Schloss Oberhausen, die Knappenchöre, Adolf Winkelmanns Filme und Max von der Grüns Bücher, Herbert Knebel und Helge Schneider, die Missfits, Fritz Eckenga und Doktor Stratmann, die Lichtburg und die Galerie Cinema und die anderen Kinos, die Gruga und der Revierpark Vonderort und das Kloster Stiepel. „Besonders auch die Initiativen, die sich um die Rettung der weltweit einzigartigen Industriekultur verdient gemacht haben, wie das Bürgerengagement für den Erhalt der Arbeitersiedlungen und der Industriebauten oder der Klartext-Verlag oder die Ruhrtriennale.“

So sei im Ruhrgebiet im Laufe der Jahre etwas entstanden, das man in anderen Gegenden der Welt für selbstverständlich halte: Heimatliebe. „Ich weiß“, sagt Steinmeier, „dass diese Heimatliebe sich oft einen Ausdruck gibt, dessen große Wärme man im Rest Deutschlands gar nicht versteht.“ Er denke an den sprichwörtlichen Satz von Frank Goosen: „Woanders is‘ auch …, naja, Sie wissen schon.“ Selbstbewusstes Understatement sei indes vielleicht die größte Stärke im Ruhrgebiet, urteilt Steinmeier. „Mir san mir“, das sage man woanders. „Sie hier denken das vielleicht auch, aber Sie sagen es nicht so laut.“