Essen. . Die Wurzeln der Europäischen Union reichen ins Ruhrgebiet: Gespräch mit dem EU-Experten Heinz-Jürgen Axt über die Aktualität der Montan-Union.

Am Anfang von Europa standen Kohle und Stahl. Mit der Montan-Union wurde vor fast 70 Jahren die Grundlage für die EU in ihrer heutigen Form geschaffen. Der Mülheimer Politikwissenschaftler Heinz-Jürgen Axt blickt in unserem Interview zurück – und auf die Gegenwart.

Am Anfang von Europa standen Kohle und Stahl. Mit der Montan-Union wurde vor fast 70 Jahren die Grundlage für die EU in ihrer heutigen Form geschaffen. Wie kam es dazu?

Axt: Die Sehnsucht, die Feindschaft der Nationalstaaten zu überwinden, war nach Ende des Zweiten Weltkriegs groß und beileibe nicht neu. Doch der in Politik und Wirtschaft durchaus weit verbreitete Wunsch nach einem europäischen Föderalismus ließ sich im 19. und zunächst auch im 20. Jahrhundert nicht realisieren. 1951, also wenige Jahre nach Kriegsende, gab es eine entscheidende Wende. Es hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es besser ist, bescheiden und pragmatisch anzufangen – mit Kohle und Stahl.

Wer ist dabei die treibende Kraft?

Axt: Die Initiative kam vor allem aus Frankreich, vom damaligen Außenminister Robert Schuman und seinem Berater Jean Monnet. Sie haben nach Ansätzen gesucht, die deutsch-französische Erzfeindschaft zu überwinden. In den 50er- und 60er-Jahren war die Montanindustrie von erheblicher Bedeutung. Praktisch die gesamte Volkswirtschaft hatte ihre Grundlage in Kohle und Stahl. Eine Zusammenarbeit auf diesem Gebiet eröffnete viele Möglichkeiten. So konnte sich Frankreich den Zugang zum wichtigen Rohstoff Kohle im Ruhrgebiet sichern, um die heimischen Stahlwerke zu versorgen. Auch sicherheitspolitische Erwägungen spielten eine Rolle. Kohle und Stahl waren schließlich für den Bau von Panzern oder Gewehren nötig. Eine wechselseitige Kontrolle versprach mehr Stabilität in Europa. Entsprechende Interessen hatten auch die USA, die in Konfrontation zu Russland standen.

War die deutsche Politik sofort von der Idee der Montan-Union überzeugt?

Axt: In der SPD gab es zunächst eher Skepsis. Der damalige Parteichef Kurt Schumacher sah durch die Orientierung Richtung Westen das Ziel der deutschen Wiedervereinigung gefährdet. Auch der spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard hatte erst einmal Bedenken, weil er als Liberaler gegen eine zu große staatliche Reglementierung von Kohle und Stahl war. Die CDU mit Konrad Adenauer an der Spitze stellte indes in den Vordergrund, dass sich Deutschland als Verlierer des Zweiten Weltkriegs mit den ehemaligen Feinden verbünden sollte. Diese Einschätzung hat sich letztlich durchgesetzt.

Wofür steht die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Kern?

Axt: Sechs Staaten – Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande – haben sich zusammengeschlossen, um einen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl zu schaffen. Weder gab es Zölle noch Mengenbeschränkungen, allerdings eine gemeinschaftlich organisierte Wettbewerbskontrolle. Kurzum: Es war ein supra-nationales, marktwirtschaftliches Modell. Insbesondere der Wettbewerbsgedanke sollte auch Ludwig Erhard überzeugen.

Wie stark haben Kohle und Stahl – damit insbesondere das Ruhrgebiet – das heutige Europa geprägt?

Axt: Die EGKS ist eine Blaupause für die Europäische Union, wie sie derzeit organisiert ist. Die Strukturen der Montan-Union lassen sich noch heute in den Institutionen der EU erkennen. Mit der EGKS entstand beispielsweise die sogenannte Hohe Behörde, der Vorläufer der EU-Kommission. Zugleich gab es einen Rat, in dem die Regierungen der Mitgliedsstaaten vertreten waren – und eine Versammlung, aus der später das Europa-Parlament entstand.

Was kann man heute aus Gründung der Montan-Union lernen?

Axt: Die EGKS hatte zunächst den Charakter eines Experiments. Das Projekt war auf Zeit angelegt, nicht auf ewig. So war der EGKS-Vertrag ausdrücklich auf 50 Jahre begrenzt. Gehandelt wurde Stück für Stück. Es gab keine übertriebenen Ziele, für die eine Akzeptanz bei den Menschen fehlte. Zugleich gehörten viele Akteure zu den Gewinnern des Projekts, das die Wirtschaft beflügelt und die Sicherheit in Europa gefestigt hat.

Sind die Prinzipien der Montan-Union noch aktuell?

Axt: Zuletzt haben die Schulden-, Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrisen eine Diskussion darüber entfacht, wie viel Europa gut ist. Nationalisten sind auf dem Vormarsch. Doch was wäre eigentlich, wenn wir die europäischen Institutionen und Strukturen überhaupt nicht hätten? Ein kleinteiliges Europa mit 28 voneinander abgeschotteten Staaten hätte einen schweren Stand gegenüber Weltmächten wie China oder den USA. Das wäre immer David gegen Goliath.

Welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Axt: Europa muss nicht alles machen, sollte aber in ausgewählten Bereichen eng zusammenarbeiten. Die Montan-Union ist meines Erachtens ein gutes Beispiel für eine gelungene Balance zwischen nationalstaatlichen und europäischen Elementen. Ich denke, mit vergleichbaren Strategien könnte Europa heute die Akzeptanz bei den Menschen spürbar erhöhen.