Düsseldorf. Die Krise beim Bahnunternehmen Abellio nötigt zu Änderungen beim VRR. Die öffentliche Hand wird mehr wirtschaftliche Risiken tragen müssen.

War noch vor wenigen Jahren die Deutsche Bahn im regionalen Bahnverkehr Ton angebend, tummeln sich alleine im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) inzwischen sieben Bahnunternehmen, die insgesamt 51 Linien von Regionalexpress bis S-Bahn betreiben. Diese Konkurrenz sollte sowohl das Zug-Angebot und die Leistung verbessern, als auch die Kosten für die öffentliche Hand drücken. Doch die Krise beim privaten Bahnunternehmen Abellio zeigt: Das mit den Kosten klappt so nicht mehr.

Eisenbahnverkehrsunternehmen - abgekürzt EVU - brauchen mehr Spielraum, um Gewinn erwirtschaften zu können. Das haben inzwischen auch die Verkehrsverbünde eingesehen. Denn die Verkehrsverträge, auf deren Basis der Zugverkehr bei uns läuft, setzen bis dato zu enge Grenzen. In diesen Verträgen schreiben die zuständigen Verkehrsverbünde bis ins Kleinste aus, was sie sich beim Betrieb der jeweiligen Bahnlinien wünschen - wann und wie oft die Züge fahren, wie viel und welches Personal an Bord ist und so weiter.

Abellio-Krise: Verkehrsverbände müssen „die richtigen Schlüsse ziehen“

„Aus der jetzigen Situation müssen die richtigen Schlüsse gezogen werden“, fordert Heiko Sedlaczek, Geschäftsführer des Nahverkehr Rheinland (NVR), einer der acht Verkehrsverbünde, die den Schienenpersonennahverkehr in NRW organisieren. In der Gemeinschaftsinitiative Fokus Bahn NRW leitet Sedlaczek die Projektgruppe „Verkehrsverträge“. Ihre Aufgabe ist kompliziert: Alarmiert durch die Krise privater Bahnunternehmen wie Abellio und Keolis müssen jetzt Wege gefunden werden, die DB-Konkurrenten auf dem Markt zu halten - zu weiterhin vertretbaren Kosten. Aber dass es für die öffentliche Hand teurer werden wird und vermutlich für Bahnnutzer, das ergibt sich aus den zahlreichen „Baustellen“, an denen hinter den Kulissen gearbeitet wird.

Stichwort Verkehrsverträge: Es gibt „Netto-“ und „Brutto-“Verträge, erklärt Lothar Ebbers, Sprecher der Fahrgast-Organisation ProBahn NRW. Im VRR seien inzwischen fast alle Verkehrsverträge „Brutto-Verträge“, sagte Ebers. Das heißt, „Fahrgeldeinnahmen gehören den ausschreibenden Zweckverbänden. Insofern haben die Eisenbahnverkehrsunternehmen keine Risiken, aber auch keine Chancen durch die Entwicklung der Fahrgastzahlen und Einnahmen.“ Die Kompensationszahlungen von Bund und Land wegen des Corona-bedingten Einnahmerückgangs etwa gingen laut Ebbers „an die Zweckverbände.“

Für 18 Jahre im Voraus die Kosten kalkulieren

Ob es gelingt, Gewinn zu machen, werde bei Brutto-Verträgen „im Wesentlichen durch die Kostenentwicklung und -kontrolle bestimmt“, erklärt man bei Abellio, deren insgesamt 16 Linien von RE1 (RRX) bis S9 nach eigenen Angaben „überwiegend“ auf Brutto-Verträgen basieren. Steigen die Kosten, ohne dass man dies vorab erwartet und ‘eingepreist’ hat, „ist dies bei dieser Vertragsform kaum zu kompensieren und wirkt unmittelbar auf das Ergebnis durch“, erklärt man bei Abellio.

Ohnehin kommt das Geschäftsmodell auf Basis von Verkehrsverträgen dem Blick in eine Kristallkugel gleich: Für ein Angebot zum Betrieb einer Bahnlinie habe man die in Aussicht stehende Vergütung durch den Verkehrsverbund und die voraussichtlichen eigenen Kosten für den Betrieb der Linie auf bis zu 18 Jahre im Voraus kalkulieren müssen, heißt es bei Abellio. Reichlich Raum für Unwägbarkeiten auf der Kostenseite, also.

Tarifabschlüsse ließen Personalkosten unerwartet steigen

Für Lothar Ebbers, Sprecher des NRW-Fahrgastverbands Pro Bahn ergibt sich daraus eine Konsequenz: „Zu prüfen wären kürzere Laufzeiten der Verträge mit Verlängerungsmöglichkeiten“, sagt er. Für die Seite der Verkehrsverbünde wiederum entgegnet Heiko Sedlaczek: „Die lange Laufzeit ist auch von Unternehmensseite erwünscht. Kürzere Vertragslaufzeiten würden auch höhere Restwertrisiken aus Investitionen und auch kürzere Arbeitsplatzsicherheiten nach sich ziehen. Wichtiger als eine Verkürzung der Laufzeit ist aus Sicht des NVR die Flexibilisierung der Verkehrsverträge im Rahmen des rechtlich Zulässigen.“

Überdies gebe es bei den Verkehrsverträgen „bereits Nachbesserungen“, sagt Sedlaczek. Man habe inzwischen „einen neuen Personalkostenindex speziell für den Schienenpersonennahverkehr entwickelt, der insbesondere bei Neuvergaben von Bahnlinien zur Anwendung kommt und die Flexibilität der Verkehrsunternehmen erhöht.“ Eine Reaktion auf die Krise, wie sie aktuell Abellio mit seinen bundesweit 3100 Beschäftigten - in NRW 1060 - in ein Schutzschirmverfahren geführt hat, bei dem die Arbeitsagentur noch bis Ende September Gehälter und Löhne der Beschäftigten zahlt.

Strafgelder bei Verspätung oder Zugausfall

Über so genannte Gleitklauseln in den Verträgen sei es in der Vergangenheit laut Heiko Sedlaczek gut gelungen, dass Bahnunternehmen zum Beispiel steigende Energie- oder Infrastrukturkosten „auffangen oder zumindest abfedern“ konnten. Doch bei den Personalkosten „hat sich das geändert“: Tarifabschlüsse mit den Gewerkschaften hätten zuletzt „zu einer verminderten Einsatzeffektivität der vorhandenen Personale geführt“, bestätigt Sedlaczek: „Beispielsweise wird das vor einigen Jahren eingeführte Wahlmodell mit 36 Tagen Urlaub vom heutigen Index nicht berücksichtigt.“

So müssten die Verkehrsverbünde in puncto Tarifabschlüsse ausbaden, „worauf wir keinen Einfluss haben“, sagt Sedlaczek. Auf andere Kostenfaktoren wiederum hat man mehr Einfluss: Die sogenannten Pönale.

VRR: Abellio muss bisher auch für Fehler der DB zahlen

„Alle von den Eisenbahnverkehrsunternehmen nicht regulär erbrachten und vertraglich vereinbarten Leistungen werden vom VRR bestraft“, erklärt eine VRR-Sprecherin. Diese Strafgelder („Pönale“) können laut Abellio „in die Millionen Euro gehen“. Bei ProBahn NRW bestätigt Sprecher Lothar Ebbers dies: „In den Kalkulationen der Verträge, die den Zweckverbänden zum Teil offengelegt werden müssen, damit Dumping verhindert wird, sind geringe Gewinn- sowie Risikomargen vorgesehen.“ Dabei handle es sich meist „jeweils um kleinere zweistellige Centbeträge pro Zug-Kilometer, während die entstandenen Mehrkosten für Personal, Baustellenfolgen und Pönale jeweils ähnlich hoch liegen und daher die Finanzpuffer aufzehren.“

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Auch wenn diese Bedingungen den Bahnunternehmen bei den Ausschreibungen vorab bekannt sind und waren, wie man bei den Verkehrsverbünden betont, gibt es auch hier inzwischen Bewegung, heißt es beim VRR: Tatsächlich wird bei den Pönalen bis dato nicht unterschieden, ob das Verkehrsunternehmen Schuld hat an Verspätungen oder Zugausfall oder nicht, etwa bei Streckensperrungen durch Baustellen im Bahnnetz, für das die DB-Tochter DB Netz verantwortlich ist, bestätigt man beim VRR. Man habe sich zum Ziel genommen, Pönale ‘gerechter’ zu verhängen.

Pro Bahn NRW: Großteil der Verspätungen hat externe Ursachen

Offen ist nur, wann das umgesetzt werden wird. Beim VRR sagt die Sprecherin, man möchte die neuen Regelungen „perspektivisch in die Verkehrsverträge integrieren, um den Betrieb im Netz zu stabilisieren.“ Aber: solche Verträgen sind in der Regel mehrere Aktenordner dick.

So sei etwa „ein mehrstufiges Modell geplant mit einer leistungsgerechten Pönale-Regelung, die beispielsweise vom Bahnunternehmen selbst verschuldete Zugausfälle anders sanktioniert als solche, auf die das Unternehmen keinen Einfluss hat.“ Auch sei an „Anreizsysteme“ gedacht, die „Chancen und Risiken fair ausgleichen. Denkbar wären Bonuszahlungen auf Basis positiver Bewertungen der Leistungen durch Fahrgäste“, sagt die VRR-Sprecherin. Man stehe dabei jedoch, sagt auch Heiko Sedlaczek, vor extrem komplexen Rechtsfragen. Vor allem dann, wenn bestehende Verkehrsverträge nachträglich verändert werden sollen.

Kommt es zu einem neuen DB-Monopol?

Gerade bei Pönalen müssten Bahnunternehmen entlastet werden, meint indes auch Lothar Ebbers von Pro Bahn NRW: „Inzwischen ist der Großteil der Verspätungen auf externe Ursachen, wie Netz-Probleme, andere Bahnunternehmen oder höhere Gewalt und nicht auf das betreffende Bahnunternehmen zurückzuführen, ebenso viele Zugausfälle.“ Daher müsse geklärt werden, „inwieweit etwa die DB verstärkt dafür zur Kasse gebeten werden kann und die Pönale bei unverschuldeten Mängeln reduziert werden können.“

Sollten sich private Bahnunternehmen vom Markt zurück ziehen, wäre das jedenfalls aus Sicht von Pro Bahn schlecht fürs Angebot, schlecht für Bahnnutzer in NRW und für das gesamte Verkehrssystem Bahn: „Es droht ansonsten, dass der deutsche Markt für andere Anbieter nicht mehr kalkulierbar ist und es wieder zu einem Quasi-Monopol der DB kommt“, meint Lothar Ebbers. Heiko Sedlaczek glaubt indes nicht, dass ein DB-Monopol in NRW bevorstehen könnte: „Die Voraussetzungen für die Kalkulation von Vertragsangeboten sind für alle Anbieter gleich.

Verluste sozialisieren, Gewinne privatisieren?

Gleichwohl haben die Veränderungen, die die Abellio-Krise nötig mache, aus Sicht von Sedlaczek Konsequenzen für die öffentliche Hand und damit für alle, die hier Steuern zahlen (und Bahnfahrkarten): „Wenn der Wettbewerb weiter gestärkt werden soll, was aus unserer Sicht unverzichtbar ist, müssen die Risiken der Kostenentwicklung noch weiter auf die Seite der öffentlichen Hand gezogen werden.“

Dies habe seine Grenzen, meint Sedlaczek: Ab einem gewissen Punkt stelle sich die Frage, „wofür es die Unternehmen noch braucht, wenn die Verluste sozialisiert und nur die Gewinne privatisiert werden.“ Verkehrsverbände seien schließlich keine Tarifpartner wie EVUs und Gewerkschaften. Personalkosten könnten also „keine Durchlaufposten in den Verträgen sein“, sagt Sedlaczek. Aber dass die Bahnunternehmen zurzeit gezwungen sind, etwa wegen des Lokführermangels vermehrt selbst auszubilden, wird in bisherigen Verträgen so gut wie nicht berücksichtigt. Das könne so nicht bleiben, meint Sedlazek: „Ein Wettbewerbsmarkt, in dem dauerhaft kein Geld verdient wird, (ist) auch zum Scheitern verurteilt.“