Gelsenkirchen. Ralf Kersting, Präsident aller Industrie- und Handelskammern in NRW, hat auf der Verkehrskonferenz in Gelsenkirchen den schlechten Zustand der Verkehrswege im Land bemängelt. Er fürchtet, dass Unternehmen deshalb abwandern könnten. Rückhalt bekommt Kersting von NRW-Verkehrsminister Michael Groschek.


Ralf Kersting warnt vor der „schleichenden De-Industrialisierung“ in Nordrhein-Westfalen. „Die Unternehmen werden gehen“, sagt er. Ganze Branchen zum Beispiel aus dem ertragsstärksten Landesteil Südwestfalen könnten abwandern, wenn die Produkte nicht mehr zum Kunden gelangen.

Ralf Kersting führt ein 430 Jahre altes Familienunternehmen im sauerländischen Olsberg. Er baut Öfen. Die marode Autobahn A 45 mit defekten Brücken und – neu – rissigen Betonschutzwänden allein bei Olpe auf neun Kilometer Strecke ist für ihn eine Lebensader, die vom Austrocknen bedroht ist. Er ist aber auch Präsident aller nordrhein-westfälischen Industrie- und Handelskammern und muss die Interessen aller Branchen gegenüber der Politik vertreten. In dieser Rolle nimmt er Partei für das Rheinland: „Es darf nicht noch mehr aufsehenerregende Vorfälle wie die Sperrung der Leverkusener A1-Brücke geben.“ Dort können Lastwagen über 3,5 Tonnen Gewicht nicht mehr fahren.

Wo sollten die Klagen lauter sein? Im Rheinland? In Westfalen? Überall in NRW ist die Infrastruktur krank. Das weiß gerade Michael Groschek, der Landesverkehrsminister. Inhaltlich ist der Sozialdemokrat von den Wirtschaftsvertretern nicht so weit weg. Auch für ihn wurden in der Vergangenheit Schwerpunkte falsch gesetzt. Als er gestern auf der Verkehrskonferenz der NRW-Industrie- und Handelskammern in Gelsenkirchen redete, geriet er darüber in Rage: Die sechs Milliarden Euro für bessere Bildung, die habe der Staat schnell aufgebracht. Die fünf Milliarden schwere Zusage des Berliner Koalitionsvertrags für die Verkehrswege aber seien nicht einmal richtig durchfinanziert. Nicht „Bildung statt Beton“ sei zu fordern. „Bildung und Beton“ müsse es heißen. Im Klartext: Ohne gute Verkehrswege habe die nächste Generation eben von der besten Bildung nichts.

Koalitionsstreit um die Lkw-Maut?

Beide haben auch Differenzen. Der Handelskammer-Präsident glaubt, dass genug Geld in den Staatskassen liegt. „52 Milliarden Euro zahlen die Autofahrer jährlich.“ Der Verkehrsminister sagt, diese Summe lande im allgemeinen Steuertopf. Neue Quellen müssten speziell für den Verkehr erschlossen werden. Er plädiert für eine verursachergerechte Lösung, also eine Lkw-Maut auch auf Bundesstraßen, selbst wenn sie nur zwei Spuren haben. Mit dem Satz deutet Groschek einen kleinen Koalitionskonflikt an, der wohl bei Schwarz-Rot in Berlin schwelt. Der CSU-Minister dort will die Gebühr nur auf vierstreifigen Fernstraßen.

Doch dass es auf Autobahnen, Stadtstraßen und an Eisenbahnbrücken bröckelt, ist nicht nur eine Sache des Geldes. Da sind Groschek und Kersting wieder einer Meinung. Es fehlen oft: Koordinierte Planungen, manchmal baureife Pläne und fast immer Bauingenieure, die die Pläne umsetzen. Zwanzig sucht NRW gerade wieder. Aber das Land zahlt schlechter als die Wirtschaft, und noch fehlen bundesweit 65 000 Ingenieure überhaupt. Groschek: Man müsse sie „mit dem Lasso einfangen“.

Er will hier handeln, kündigte er in Gelsenkirchen an. NRW nimmt künftig die Dienste der staatseigenen Planungsgesellschaft Deges in Anspruch. Die hat im Osten seit 1991 1300 Kilometer Autobahn gebaut und weitet die Tätigkeit in den Westen der Republik aus. So wird wenigstens die Personallücke kleiner. Folgen die Baulücken?