Berlin.
Dreht Putin den Europäern bald den Gashahn zu? Seit der Kreml den milliardenschweren Gas-Deal mit Peking unterzeichnet hat, mehren sich in Europa die Befürchtungen, dass Russland sich künftig stärker Richtung Osten orientiert und Europa mit der Gas-Waffe unter Druck setzt, sollte die Krise in der Ukraine eskalieren und der Westen seine Sanktionen verschärfen.
Doch wie realistisch sind solche Ängste? Die Eckdaten des russisch-chinesischen Abkommens hören sich beeindruckend an. Der Liefervertrag zwischen Gazprom und dem chinesischen Staatskonzern CNPC sieht vor, dass Russland 30 Jahre lang mindestens 38 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach China liefern wird. Der Gesamtumfang des Deals liegt bei rund 400 Milliarden Dollar. Marktkenner glauben trotzdem nicht, dass sich Putin bei aller politisch gelungenen Inszenierung wirtschaftlich so einfach von Europa lösen kann. „Europa wird hiervon kaum tangiert, da Russland ausreichend Gas zur Verfügung hat, um in verschiedene Länder zu liefern“, sagte Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im NRZ-Gespräch. Auch Rainer Wiek vom Hamburger Energieinformationsdienst empfiehlt einstweilen „Gelassenheit“.
Felder für denpazifischen Raum
Für diese nüchterne Einschätzung spricht, dass das russische Gas nicht vor 2018 nach China fließen kann. Bis zum Start der Lieferungen müssen China und Russland noch hohe Milliardensummen in Pipelines investieren. „Die Frage ist, ob und welche Pipelines nach Asien tatsächlich gebaut werden und welche Preise auch China langfristig zu bezahlen bereit ist“, sagt Kemfert. Die Gas-Lieferungen an China kommen im Übrigen aus ganzen anderen Gasfeldern als jene für Europa. Während die Europäer aus Westsibirien mit Gas versorgt werden, soll das Erdgas für den chinesischen Markt aus Ostsibirien kommen. Das sind Felder, die Russland schon seit Jahren für die Vermarktung in Peking oder im pazifischen Raum – etwa in Japan — vorgesehen hat, sagt Energieexperte Wiek. „Auch wenn politisch sicher mehr dahintersteckt, wirtschaftlich muss man den Deal im Grunde völlig isoliert von den Gaslieferungen nach Europa betrachten“, so Wiek.
China und Russland verhandeln schon seit Jahren über den Vertrag, der Abschluss hat insofern also nur bedingt mit der politisch zugespitzten Lage in der Ukraine zu tun.
Zwischen Ost- und Westsibirien ist es außerdem kein Katzensprung. Wollte Russland die westsibirischen Reserven nach Osten umleiten, müsste es Tausende Kilometer neuer Pipelines bauen. Und dafür fehlt den Russen schlicht das Geld. Seit Jahren bemüht sich der Kreml, westliche Investoren für Infrastrukturinvestitionen in seinem Riesenreich zu erwärmen. In diese Lücke könnten jetzt, ähnlich wie in Afrika, die wirtschaftlich erstarkten Chinesen vorstoßen; doch auch das russisch-chinesische Verhältnis ist traditionell nicht einfach. Insofern also muss sich erst noch erweisen, wie weit die neue Gas-Freundschaft trägt.
Peking ist einstweilender eigentliche Gewinner
Eine andere theoretische Möglichkeit für Russland wäre es, seine Gas-Reserven als Flüssiggas (LNG) auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Doch auch hierfür sind zunächst milliardenschwere Investitionen in LNG-Terminals nötig, die Russland nicht so einfach stemmen kann. Kurzum: „In näherer Zukunft hat Russland keine Möglichkeiten, sein Gas woanders zu verkaufen“, sagt Energiefachmann Wiek.
Zudem ist aktuell mehr als genug Gas auf den europäischen Märkten. Betrachtet man die Angelegenheit also wirtschaftlich-pragmatisch, dann hat Putin den China-Deal zwar gut inszeniert und Russland strategisch geschickt in Stellung gebracht. Aber die Drohgebärden gegenüber dem Westen hat sich der Kreml-Chef auch einiges kosten lassen. Bei den Verhandlungen dürften die Chinesen einen Schnäppchen-Preis rausgeholt haben. Peking ist damit einstweilen der eigentliche Gewinner.
Europa wird nach den Erfahrungen mit Putin einiges in Bewegung setzen, um unabhängiger von russischem Gas zu werden. Bundeskanzlerin Merkel hatte bereits Ende März während des Krim-Konflikts gefordert, die Abhängigkeit zu verringern. Schließlich bezieht Deutschland 36 Prozent seiner Gaseinfuhren aus Russland. Auch die EU insgesamt will sich auf lange Sicht aus der Umklammerung des Kreml lösen. Im Juni könnten erste Entscheidungen zu einer Neuausrichtung der europäischen Energiepolitik fallen.
Man kann die Sache also auch so sehen, dass Putin einfach auf den Liebesentzug der Europäer reagiert – und sich neue Partner im Osten sucht.