. Die nachlassende Sorge vor einem Verfall der Preise in der Euro-Zone lässt die Aussichten auf eine rasche Zinssenkung schwinden. So sieht es auch Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Er übt Kritik an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, aber auch an der Bundesregierung für deren Renten- und Mindestlohnpläne.

Sinkende Preise für Energie haben die Inflation im Euroraum zuletzt überraschend gedrückt. Experten beschwören bereits das Schreckensbild einer Deflation, einem anhaltenden Verfall der Preise in Europa, der auch der deutschen Wirtschaft schaden könnte.

Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, gehört nicht zu diesen Mahnern, obgleich auch er von einer weiter fallenden Inflation ausgeht. „Der Begriff Deflation wird missbraucht“, sagte Krämer im Gespräch mit dieser Zeitung. Eine „echte Deflation“ habe es bislang nur in den 1930-er Jahren in den USA gegeben. Dagegen haben nach Ansicht des Ökonomen die Schuldenstaaten Südeuropas jetzt lediglich die überzogenen Lohnsteigerungen der Boomjahre rückgängig gemacht. Krämer: „Die Unternehmen können wegen der gefallenen Lohnkosten die Preise senken. Das verbessert die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in den Krisenländern.“

Schreckgespenst fallender Preise

Vor diesem Hintergrund ist der Chefvolkswirt der Commerzbank davon überzeugt, dass vor allem die Vertreter der Krisenländer im EZB-Rat das Schreckgespenst fallender Preise an die Wand male, um die „viel zu expansive Geldpolitik“ fortzusetzen. „Mit ihrem Anleihe-Kaufprogramm und ihrer lockeren Geldpolitik übertüncht die EZB die Staatsschulden-Krise“, kritisiert Krämer. Für März hält er eine Leitzinssenkung für möglich, sogar erstmals negative Einlagezinsen für Banken.

Die EZB schaffe mit ihrer Niedrigzins-Politik einen „Anlage-Notstand“, kritisiert Krämer. Versicherungen und Investmentfonds seien gezwungen, risikoreiche Wertpapiere zu kaufen, um ihren Kunden überhaupt noch den Garantiezins zu zahlen. Das habe lange Zeit die Aktien hochgetrieben.

Scham-Abstand zur Null-Grenze

„Wir brauchen einen Scham-Abstand zur Null-Grenze“, fordert Krämer. „Der Leitzins von 0,25 Prozent ist für Deutschland viel zu niedrig. Drei bis 3,5 Prozent wären angemessen.“ Die von der EZB niedrig gehaltenen Zinsen führten dazu, dass etwa Immobilienpreise künstlich in die Höhe gehen, die Sparquote aber deutlich abnehme.

Der Ökonom sagt zwar voraus, dass die deutsche Wirtschaft noch einige Jahre über „viel Schwung“ verfügen werde. „Das Zurückdrehen der Reformen der Agenda 2010 wird aber langfristig das Wachstum senken“, kritisiert Krämer die Renten- und Mindestlohn-Pläne der Großen Koalition.

Gemessen am Ifo-Geschäftsklimaindex, der im Januar positiv überraschte, überwiegt in der Wirtschaft derzeit Zuversicht. Der Chefvolkswirt der Commerzbank warnt aber auch vor Risiken: Das Wachstum im so wichtigen Markt China gehe zurück. Und: „Die deutschen Unternehmen halten sich immer noch mit Investitionen zurück.“