Berlin. . Vor zehn Jahren hatte Kanzler Schröder das größte Reformprojekt für die Wirtschafts- und Sozialpolitik der deutschen Nachkriegsgeschichte angeschoben. Von den Auswirkungen profitiert der Standort bis heute. Doch die Politik hat es sich allzu bequem gemacht, warnen führende Experten und fordern neue Reformen - etwa beim Kündigungsschutz.

Wer vor zehn Jahren in eine Zeitmaschine gestiegen wäre, würde heute in einem anderen Deutschland ankommen. 2003 waren mehr als vier Millionen Menschen ohne Arbeit, zwei Jahre später über fünf Millionen. Heute sind nur noch drei Millionen ohne Job, die Zahl der Erwerbstätigen liegt auf einem Rekordniveau. Damals ging der Aufschwung der Weltwirtschaft nach dem Irak-Krieg fast an Deutschland vorüber, heute ist die Bundesrepublik eine globale Wachstumslokomotive. Aus dem "kranken Mann Europas" (Economist) ist ein Kraftprotz im Herzen des Kontinents geworden. Das Land hat sich mit der Agenda 2010 erneuert. Aber reicht das, um auch in Zukunft im weltweiten Wettbewerb zu bestehen? Volkswirte und damalige Akteure haben Zweifel - denn nach der Reform ist vor der Reform. "Wir laufen schon Gefahr, an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren", warnt etwa der Unternehmensberater Roland Berger.

In dieser Woche jährt sich zum zehnten Mal der Tag, an dem der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Bundestagsrede das wohl bedeutendste Sozialreformprogramm in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg skizzierte. Ohne jeden Pathos kündigte er damals an, um das Land wieder an die Spitze in Europa zu führen, "werden wir Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen." Die Reform, vor allem Hartz IV, ist bis heute heftig umstritten - unbestritten ist aber, dass sie Effekte gehabt hat.

Man hat es sich auf den Lorbeeren bequem gemacht

Der Arbeitsmarkt und die Sozialversicherungen gelten heute als robust und krisenfest, auch wenn etwa bei der Kranken- und bei der Pflegeversicherung noch einiges zu tun ist. Von den Problemen, die Deutschland heute noch im Sozialsystem hat, können andere Länder in der Euro-Zone jedenfalls nur träumen, die wie Spanien, Portugal, Griechenland und Irland entweder in schmerzhaften Anpassungsprozessen stecken oder diese noch weitgehend vor sich haben wie Italien und Frankreich.

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Ganz anders Deutschland: Man möchte meinen, der starke Mann Europas lehnt sich zufrieden zurück und zündet sich - ganz in Manier des "Cohiba"-Kanzlers Schröder - eine gute Zigarre an. Doch die könnte schneller abgebrannt sein als gedacht. Denn was wäre, wenn man heute in eine Zeitmaschine steigen und einen Blick auf Deutschland in zehn Jahren werfen würde - allerdings auf ein Deutschland, das es sich eine Dekade lang im gemütlichen Ohrensessel des erfolgreichen Reformers bequem gemacht hat?

Standort verliert an Anziehungskraft 

"Niemand weiß, was in fünf oder zehn Jahren sein wird", sagt Berger: "Aber wahrscheinlich ist, dass Deutschland wieder in Schwierigkeiten gerät, wenn nicht rechtzeitig weitere Reformen durchgeführt werden." Zwar wird sich die Bundesrepublik nicht über Nacht in Griechenland verwandeln, und die "Reform-Dividende" der Agenda 2010 wird noch einige Zeit fließen. Das Land besitzt eine solide Industrie, ein funktionierendes Ausbildungssystem und kann einen ausgeglichenen Staatsetat vorweisen. Auch der Arbeitsmarkt ist heute in der Lage, Wachstum schneller in neue Jobs umzuschlagen. Das insgesamt positive Bild überdeckt aber, dass die Hauptprobleme mittlerweile an anderer Stelle liegen.

Denn Deutschland verliert schon seit geraumer Zeit wieder an internationaler Wettbewerbsfähigkeit und an Attraktivität als Investitionsstandort. Nach Daten der OECD ist die Bundesrepublik eines von nur zwei Ländern in Europa, das in den vergangenen fünf Jahren an Produktivität eingebüßt hat: Die Lohnkosten steigen zurzeit so schnell wie seit der Einführung des Euro nicht mehr. Man kann das deuten als normale und notwendige Entwicklung, nachdem sich die Beschäftigten seit 1997 in Lohnzurückhaltung geübt haben - ein weiterer Faktor neben der Agenda-Politik, der das Land wieder fitgemacht hat. Genau deshalb kann man in der Rolle rückwärts auch ein Problem sehen.

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Daten der Bundesbank decken jedenfalls auf, dass Deutschland bei ausländischen Investoren an Bedeutung verliert: 2012 sanken erstmals seit acht Jahren die ausländischen Direktinvestitionen, die um 2,4 Milliarden Euro schrumpften. Ein Jahr zuvor waren sie noch um 29,1 Milliarden Euro gestiegen, 2010 um 35,4 Milliarden Euro. Die Zahlen können stark schwanken und sind deshalb schwer zu interpretieren. Der Allianz -Chefvolkswirt Michael Heise wagt trotzdem einen Befund. Seiner Meinung nach hat sich das Geschäftsklima in Deutschland unter der Kanzlerschaft Angela Merkels verschlechtert. Dafür nennt er eine Reihe von Gründen:

Energiekosten gefährden die Industrie

Ganz oben auf der aktuellen Reformagenda stehen für Heise die hohen Energiekosten für Verbraucher und Industrie. Es folgen die Ausweitung der staatlichen Sozialausgaben, etwa durch das Betreuungsgeld, und die steigenden Lohnkosten. "Wir müssen sehr aufpassen, dass wie das Geschäftsklima nicht durch viele kleine Schritte verschlechtern, die in der Summe unserer Wettbewerbsfähigkeit schaden", warnt der Allianz-Chefökonom.

Auch das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) sieht in den Energiepreisen eine echte Wachstumsbremse. "Wir haben bereits bei energieintensiven Unternehmen Desinvestitionen", sagt IW-Direktor Michael Hüther. Die Wirtschaft sei tief verunsichert, wie es weitergehe: "80 Prozent der Unternehmen sehen nicht, wie diese Energiewende gestaltet werden kann ohne dramatische Kostenkonsequenzen." Unsicherheit ist Gift für Investitionen. Berger ergänzt, es fehle bisher ein kompetentes Management der politisch initiierten Energiewende.

Einer der Architekten der Agenda 2010, der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement warnt bereits: "Es droht, dass wir uns verabschieden von dem, was wir mühsam zu Beginn dieses Jahrhunderts eingeführt haben." Denn wer stehenbleibt, wird irgendwann auch vom Langsamsten eingeholt. "Was in Süd-Europa stattfindet, ist sehr beeindruckend. Wir tun gut daran, uns nicht selbst einzureden, wir seien schon weit genug."

Schlechte Reformnoten für Kanzlerin Merkel 

2003 wie 2013 erfordern Reformen politischen Mut. Die Agenda 2010 hat mit dem Entstehen der Linken das Parteiensystem aufgemischt - und letztlich Schröder das Amt gekostet. Aus Heises Sicht ist die Reformbereitschaft Merkels dagegen noch stark ausbaufähig: "Da ist nicht viel passiert." Schuld daran sei der wirtschaftliche Erfolg der Vergangenheit: "Uns ging es ja gut, das Ausland hat uns auf die Schulter geklopft." Die Folge sei Selbstzufriedenheit: "Das ist hochgefährlich."

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"Diese und die vorhergehende Regierung haben von den Schröderschen Reformen profitiert und sind nachlässiger geworden", warnt auch Berger. Er fordert deshalb eine neue Agenda 2025 oder 2030: "Dabei müssen wir alles auf den Prüfstand stellen und uns fragen, ob beziehungsweise wie wettbewerbsfähig wir noch sind." Das Problem: Reformen sind politisch heikel, weil die positiven Effekte jahrelang auf sich warten lassen, und der akute Handlungsbedarf scheint sehr gering: 2010 und 2011 hat Deutschland den stärksten Boom seit der Wiedervereinigung erlebt. "In der Zeit konnte die Bundesregierung zwar hohe Steuereinnahmen verzeichnen, hat aber in Punkto Reformen relativ wenig unternommen", konstatiert Unternehmensberater Berger.

Auch der Befund der Industrieländer-Organisation OECD ist alles andere als ein Beleg für politische Tatkraft. In einer im Februar veröffentlichten Analyse ("Going for Growth"), die den Reformwillen in 34 Ländern untersucht, belegt Deutschland nur den 28. Platz. Dabei wäre aus Sicht der OECD einiges zu tun: Das Steuersystem sei beschäftigungsfeindlich, das Bildungssystem bevorteile die Eliten, der öffentliche Sektor sei überreguliert und die demografischen Probleme würden nicht konsequent genug angepackt durch eine stärkere Öffnung des Landes für Einwanderer und eine bessere Einbindung von Frauen in den Arbeitsmarkt.

Lockerung des Kündigungsschutzes gefordert

Mit einem Satz: Deutschland im Jahr 2013 ruht sich aus. "Seit der Finanzkrise glauben viele Menschen hier, dass ohne den Staat nichts läuft", sagt Berger: "Und die Politiker orientieren sich mehr und mehr an gesellschaftlichen und populären Trends, weniger an Sachpolitik." Auch Merkel verstehe es, den Zeitgeist zu erfassen und sich potenzielle Mehrheiten zu sichern: "Auf diesen Überlegungen basieren dann viele ihrer Entscheidungen."

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Am Reformunwillen dürfte sich in naher Zukunft nicht viel ändern. Mit Blick auf die Wahl im Herbst ist jedenfalls nicht zu erkennen, dass sich die Parteien einen Ideenwettbewerb um die innovativsten Reformkonzepte liefern. Auch die rot-grüne Regierung hat damals Jahre gebraucht, um sich zur Agenda 2010 durchzuringen - und weitere Jahre, um sie umsetzen. Das Notwendige ließ sich 2003 wohl einfach nicht mehr aufschieben.

Auch andere führende Ökonomen fordern eine Weiterentwicklung des Reformansatzes der Agenda 2010: "Das Bewusstsein, dass es auch nach der Agenda 2010 noch einen großen Reformbedarf gibt, scheint in der Politik mehr und mehr abhanden zu kommen", sagte der Chef des Sachverständigenrats, Christoph Schmidt. Die Diskussion über Mindestlöhne etwa belege, dass "strengere Regulierungen eher auf der politischen Agenda stehen als Liberalisierungen".

Schmidt mahnte eine Lockerung des Kündigungsschutzes an. Außerdem sei mit der Rente mit 67 das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Die Menschen würden immer älter und das bei zunehmender Gesundheit. "Es ist sinnvoll, diese zusätzlichen Lebensjahre etwa im Verhältnis zwei zu eins auf zusätzliche Arbeitszeit und freie Zeit aufzuteilen", sagte Schmidt. Um die Ausgaben der Krankenkassen im Griff zu behalten, wäre "eine prozentuale Beteiligung der Patienten an den Kosten bis zu einem festzulegenden Höchstbeitrag" sinnvoll.

Warnung vor dem "demographischen Chaos"

Der Direktor des Instituts der Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann, warnte, Deutschland "ruht sich auf seinem wirtschaftlichen Erfolg aus." Das sei "brandgefährlich und wird uns in spätestens fünf Jahren vor die Füße fallen, wenn das demographische Chaos ausbricht". Zimmermann sieht demnach im Gesundheits- und Pflegesystem genauso weiter Reformbedarf wie bei der Rente. "Die Rente mit 70 ist unabdingbar", sagte Zimmermann.

Eine Fortsetzung der Agenda-Politik fordert auch das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). In einer Studie für die Initiative Neues Soziale Marktwirtschaft, die in der kommenden Woche veröffentlicht werden soll, kritisieren die Forscher, dass Hartz-IV-Empfänger kaum finanzielle Anreize hätten, die Erwerbslosigkeit zu verlassen. Die Reform der Grundsicherung müsse weiter vorangetrieben werden. Die Ökonomen schlagen Kombilöhne und Lohnsubventionen vor. (reuters/afp)